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Paris ist ja auch jenseits von Louvre, Centre Pompidou oder Jean Nouvels fabulös vertikalem Garten des Musée du quai Branly eine Stadt der Museen.

Foto: AP/Claude Paris

Balzac nahm gerne den Hinterausgang. Vor allem dann, wenn es wieder mal gar nicht anders ging. „Vite, vite!", hieß es dann. Jetzt schnell zur kleinen Rue Berton hinaus, um noch einmal den zahllosen Gläubigern zu entkommen! Sechzehnmal zog der chronisch Verschuldete innerhalb von Paris um, stets waren ihm dabei ungeduldige Geldgeber auf der Spur. Eine biografische Konstante, die perfekt zum Autor der Comedie Humaine passen mag. Doch fluchtartig verlassen wirkt das ländlich wirkende Wohnhaus im vornehmen Pariser Viertel Passy, in dem sich Balzac acht Jahre finanziell mal über, häufiger unter Wasser hielt, nicht. Zettel, Notizen, Briefe, Fotos verteilen sich über das unverändert gebliebene, aber zugleich sorgfältig in Schuss gehaltene Arbeitszimmer, und die schmale Startrampe des Holzschreibtisches, von der Balzac Richtung Künstlerolymp abhob, riecht nach frischer Politur.

Der griffbereite Spazierstock mit Knauf aus Gold und Türkisen, die aus Seide und Wolle gestickten Hosenträger scheinen den raren Gästen ein „Komme gleich!" zuzuflüstern. Staubfrei glänzt eine legendäre Kaffeekanne im gedämpften Licht, bis zu vierzig Tassen genoss der Gehetzte täglich daraus. Die besten davon vermutlich eine Etage tiefer, im kleinen Gärtchen mit den blau lackierten Stühlen, von denen aus man andere Pariser Quintessenzen im Stile eines Cezanne-Gemäldes betrachten kann: Lichtflirrende Weinreben und eine Buschrose lassen den weiter hinten sichtbaren Eiffelturm hier wie ein privates Pflanzgerüst im Dunst stehen. Es ist eine jener Pariser Oasen, die man beim schnellen Wochenend-Trip kaum zu Gesicht bekommen wird. Man betritt sie durch die Rue Raynouard 47. Ahnungslos in der Regel, so wie Balzacs gefoppte Gläubiger.

Kaffee in Balzacs Garten - das wäre schon mal so eine Idee von Musealität mit Aroma. Denn eine Stadt wie Paris, das sind ja vor allem auch die Menschen, die hier persönliche Spuren hinterließen, bevor diese von der Nachwelt eingesammelt wurden: Scheinbar nebensächliche Abdrücke des Alltäglichen, durch die vieles, auch ein künstlerisches Werk, besser lesbar wird.

Mangel an konservierten Ateliers

Ein augenscheinlicher Mangel an konservierten Ateliers und Künstlerwohnungen existiert dabei kaum. Ganz im Gegenteil. Paris ist ja auch jenseits von Louvre, Centre Pompidou oder Jean Nouvels fabulös vertikalem Garten des Musée du quai Branly eine Stadt der Museen. Und natürlich ein großer Friedhof der Biografien, wozu man sich noch nicht mal auf die Gräber-Ehrenrunde des Père Lachaise begeben muss. Hunderte von Malern, Bildhauern und Schriftstellern warteten in Montmartre, Montparnasse und Saint-Germain auf den Durchbruch. So verwundert es kaum, dass ehemalige Ateliers einen guten Teil jener rund 150 weniger bekannter Museen stellen, die sich, in der Regel ohne den gefürchteten Zeitwürgegriff langer Warteschlangen, über ganz Paris verteilen. Besuch bei der Boheme, das ist aber auch ein musealer Spaziergang der intimeren Art: Nicht selten erlaubt er Innenansichten von atmosphärischer Dichte. Empfohlener Soundtrack für die Metro-Fahrt zwischen den einzelnen Stationen: Charles Aznavours Chanson La Bohème.

Einige Schritte von den Galeries Lafayette liegt das Musée de la Vie Romantique, auch so ein Cluster großer Namen. Der Schreibtisch von George Sand. Die langen schmalen Hände ihres Lebensgefährten Frédéric Chopin, allerdings nicht in Formalin, sondern als Abguss ausgestellt. Das Gewächshaus im Hinterhof und das Leuchten der hochgeschossenen Pappelrosen passen perfekt zur Geschichte des verträumten Häuschens, in dem Franz Liszt, Gioacchino Rossini oder Charles Dickens ein und aus gingen, die die kleine Villa des Hofmalers Ary Scheffer zum Mittelpunkt der damaligen Kunst- und Literatenzirkel machten.

Andere bauten sich - überzeugt von der Bedeutung des eigenen Werkes für die Nachwelt, vielleicht aus Angst vor dem Tod, und fast im Stil des geplagten Salvador Dalí - ihre Museen bereits zu Lebzeiten selbst. Gustave Moreau war so ein Typ. Nach und nach widmete er Garten, Wohnräume, später sogar das eigene Atelier der Präsentation seiner tausender Werke und Skizzen, ließ eine spektakulär geschweifte Wendeltreppe einbauen, die nun seinen Werken im Musée Gustave Moreau die Schau zu stehlen droht.

Fast beliebig ließe sich die Liste solcher stillen Winkel verlängern, in denen neben Kunst auch Hobbys und Spleens zur Besichtigung freigegeben werden. Edith Piaf, Auguste Rodin, Adam Mickiewicz, Victor Hugo, die Bildhauer Ossip Zadkine und Antoine Bourdelle, aber auch private Nischen der Polit-Prominenz wie Jean Moulin, Jacque-René Hébert, Wladimir Iljitsch Lenin und Namen aus der Wissenschaft tauchen da auf.

Gruselige Kollektion

Etwa im Westen der Stadt, an der Rue Boileau, wo Gustave Eiffels Sieben-Tonnen-Ventilator vom Gewicht der Luft erzählt, und der erste Windkanal der Welt - erklärtes Showpiece des Aérodynamique Eiffel - von der Metamorphose früher Flugzeugmodelle. Dazu kommen schließlich noch all jene Mini-Museen, die weitere thematische Nischen besetzen: Das selbsterklärende Musée du Vin etwa und die gruselige Kollektion der Polizeipräfektur.

Auch ein kleiner Louvre-Seitensprung kann nicht schaden: Immerhin hat im riesigen Bilder-Kasten mit dem Pavillon de Marsan Louvre ja auch noch das größte Modemuseum der Welt locker Platz, letzteres Musée de la Mode et du Textile allerdings Probleme mit seinem gewaltigen Fundus. Es ist wie mit der Garderobe von Fashionvictims: Gerade ein Hundertstel der Sammlung wird hier in Rahmen von wechselnden Themenschauen gezeigt.

Apropos Mode: An der Metro-Station Iéna, unweit des Palais de Tokyo, findet sich neben dem hübschen Garten des Palais Galliera noch ein zweites Modemuseum, nämlich das Musée de la Mode et du Costume: Hüte und Dessous mit Memory-Effekt. Der Horror für die großen Marken sieht indessen anders aus. Das beweist das im 16. Arrondissement, nicht allzu weit von den Flagshipstores des Champs Élysées gelegene Musée de la Contrefaçon: Es ist Fälschungen von Rolex, Gucci und Co gewidmet. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Album/Printausgabe, 8./9./5.2010)