Shia LaBeouf, Josh Brolin und Michael Douglas als frisch aus der Haft entlassener Börsianer Gordon Gekko in "Wall Street:Money Never Sleeps".

Foto: Centfox

Cannes - Mit dem zeitlichen Abstand von 22 Jahren erhalten die Accessoires eines gefürchteten Helden einen komischen Beigeschmack. Ein Seidenstecktuch, eine goldene Uhr und ein überdimensioniertes Handy werden Gordon Gekko zu Beginn von Oliver Stones Wall Street: Money Never Sleeps bei seiner Haftentlassung überreicht.

Der einstige Börsenhai, im Sequel erneut von Michael Douglas verkörpert, ist dem ersten Anschein nach milde geworden. Das System, das er einst zur Selbstbereicherung nutzte, will er nun mit einem im Knast verfassten Buch durchleuchtet haben: Ein Insider, der die Fronten gewechselt hat?

Wilde Kursstürze ...

Oliver Stone ist ein Regisseur, der sich bei akut zeitgenössischen Themen, nahe der Macht, am wohlsten fühlt. Wall Street könnte sein Film der Stunde sein, wirkt jedoch ästhetisch wie aus einer anderen Zeit. Wieder blickt er ins Innenleben einer deregulierten Finanzwelt: Er malt sich mit dynamischen, aber ein wenig altbackenen Mitteln wilde Kursstürze aus und moralisiert über Banker, deren schlimmster Albtraum die Verstaatlichung ihrer Institute ist. Den aufstrebenden Jungspekulanten spielt diesmal Shia LaBeouf. Gekko selbst bleibt immer noch die auratischste Figur, obwohl auch er wie ein Geist aus anderen Zeiten erscheint, an dem die Neuauflage eben nicht vorbeikam - ein Übervater, der mit pointierten Dialogzeilen um sich wirft.

Das sichert einem Hollywoodfilm, der sich bei aller Empörung über das zynische Wesen der Finanzwelt zum Glück nicht allzu ernst nimmt, zumindest einigen Unterhaltungswert. Gier, heißt es darin, ist mittlerweile längst legal. Deswegen läuft er auch in Cannes, wo hemdsärmelige Kapitalismuskritik auf ein empfängliches Publikum trifft.

Andererseits behauptet sich an der Croisette neben dem Markt immer noch das Autorenkino. Und da wurde ein Wettbewerb, der in den ersten Tagen nicht so recht in die Gänge kommen wollte, von der Nebenschiene Un Certain Regard überflügelt. Manoel de Oliveiras The Strange Case of Angelica hat sie mit einem Film über eine gespenstische Liebe zum Tod eröffnet. Der Fotograf Isaac fährt zu Beginn durch die nächtliche Finsternis. Eine wohlhabende Familie hat ihn gerufen, um Bilder einer Toten anzufertigen - Angelica, die Tochter des Hauses, ist gestorben. Wie für ein Bild arrangiert, mit einem sanften Lächeln im Gesicht liegt sie dann da, so als würde sie auf ihn warten.

Als Isaac sein Objektiv auf sie richtet, schlägt sie die Augen auf. Unerklärliches geschieht in Oliveiras Film mit größter Selbstverständlichkeit. Isaac fällt in den Bann der Toten. Aus Oliveiras Film, der trotz seiner metaphysischen Ausrichtung sehr gegenwärtig bleibt - in einer Szene kommt man auch hier auf die Finanzkrise zu sprechen -, weht der Geist eines Kinos, das mit sparsamen Mitteln das Fantastische beschwört.

Das rumänische Kino, seit Jahren eine Größe in Cannes, ist gleich mit zwei ungewöhnlichen Filmen vertreten: Cristi Puius Aurora leuchtet in drei Stunden die Lebensumstände eines Familienvaters aus, der zum mehrfachen Mörder wird. Trotz des Themas ist dies ein in jeder Hinsicht unspekulativer Film. In langen Szenen werden oft unglaublich profane Alltagsverrichtungen protokolliert. Puiu (Der Tod des Herrn Lazarescu) spielt den erratischen Richter seiner Nächsten selbst: Je länger man diesem pedantischen Mann bei seinen Vorbereitungen zusieht - der erste Schuss fällt erst nach eineinhalb Stunden -, desto unheimlicher erscheint er. Es ist die Gleichmut, die in diesem Film den Horror erschafft.

... und ein Beziehungsdreieck

Radu Muntean überrascht dagegen mit einem Alltagsdrama aus der neuen urbanen Mittelschicht. Im Mittelpunkt von Tuesday, After Christmas steht Paul, ein Mann mit einer Frau, einem Kind und einer Geliebten. Die Handlung des Films ist überschaubar: Die Dreierkonstellation kann eben nicht ewig gutgehen. Beeindruckend ist, mit welcher Umsicht eine Situation beschrieben wird, aus der nur eine schmerzhafte Entscheidung herausführt.

Der Film präferiert keine Seite, weder die wiederentdeckte Lebenslust mit der Freundin noch die familiäre Wärme mit der Ehefrau - aus diesem waagrechten Blick bezieht er seine Kraft. Das ist vielleicht keine Sekunde lang neu, aber sehr bewegend inszeniert. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, DER STANDARD/Printausgabe, 15./16.05.2010)