Endstation Zahnarztpraxis: Zu Comic-Figuren mutierte Gangster liefern sich immer groteskere Retourkutschen in "Outrage" von und mit Takeshi Kitano (li., neben Kippei Shiina).

Foto: Filmfestival Cannes

Aufnahmestopp! Momentan dürfen nur Weiße über den roten Teppich ins Kino. Die Mehrheit der mit rosa Ausweisen ausgestatteten Tagespresse muss warten. Die Nervosität steigt, das Gedränge wird langsam unangenehm. "Das ist rassistisch!", ruft ein Journalist. Worauf der Saalwärter stoisch erwidert: "Genau. Das ist rassistisch. Wir sind hier schließlich auf dem Filmfestival von Cannes."

Tatsächlich pflegt man auf keinem anderen Filmfestival seine Attitüde, der Nabel der Filmwelt zu sein, auf so kokette Weise wie an der Croisette. Das hat Erwartungshaltungen zur Folge, die selbst von den großen Autoren des Kinos kaum mehr eingelöst werden können. Man sollte sich vielleicht einfach entspannen und nicht auf Meisterwerke hoffen, sondern auf Filme, die widersprüchliche Positionen und Ungleichzeitigkeiten der heutigen Welt reflektieren.

Neue Verhältnisse

Mit Mahamat-Saleh Harouns Un homme qui crie läuft beispielsweise nach längerer Abwesenheit wieder einmal ein afrikanischer Film im Wettbewerb. Wie schon in Daratt - Harouns Beitrag zum New-Crowned-Hope-Zyklus im Mozartjahr - ist darin der Bürgerkrieg im Tschad für das Dasein der Protagonisten eine unumgehbare Gefahr. Adam (Youssouf Djaoro) ist ein ehemaliger Schwimmchampion, der gemeinsam mit seinem Sohn Abdel (Diouac Koma) als Bademeister eines Hotelpools arbeitet. Neue Eigentümerverhältnisse bringen die Routinen durcheinander: Man überträgt den Job dem Jüngeren, Adam wird zum Portier degradiert - keine leichte Aufgabe für einen Mann seines Alters: Die Schranken muss man noch händisch öffnen.

Un homme qui crie entwirft in einem sehr klaren, aufgeräumten Stil solch sprechende Bilder. Harouns Kino ist von einem engagierten Humanismus getragen; in den Handlungen seiner Figuren entdeckt er eine Moral, die über das Individuelle stets hinausreicht. Vater und Sohn sind etwa keine Konkurrenten, sondern sie werden durch die Umstände zu solchen gemacht. Und wenn der Krieg einen fragwürdigen Ausweg bietet, weil der Vater den Sohn zum Militär schickt und damit seinen alten Job zurückbekommt, wird er bald alles daran setzen, diesen Schritt ungeschehen zu machen. Damit beginnt ein Wettrennen eines Einzelnen gegen die Dynamik der Dinge.

Zwangslagen stehen auch im Mittelpunkt von Outrage von Takeshi Kitano, der damit nach mehreren selbstreferenziellen Arbeiten zum Yakuza-Film zurückkehrt, wobei diese Rückkehr auch ein Neubeginn ist, denn mehr als je zuvor scheint es dem japanischen Regisseur nun um die Funktionalität des Genres zu gehen, um ein schon fast musikalisches Spiel des Tötens in blau-metallenen Interieurs, das mit großer Eleganz zelebriert wird.

Die Handlung des Films ist so auch auf einen einzigen Kreislauf der Gewalt beschränkt: Mr. Chairman, der oberste Yakuza-Boss, verlangt von einem seiner Untergebenen einen Treuebeweis - der erste Akt der Provokation, der eine Kette von Retourkutschen zur Folge hat, die in immer groteskere Gewaltexzesse münden. Die Praxis, sich bei Verfehlungen Finger abzusäbeln, ist hier längst out of fashion - Vergeltung wird in Outrage mit Zahnarztbohrern, Essstäbchen und massiver körperlicher Gewalt geübt.

Die eruptive Qualität dieses Terrors ist allerdings kein Selbstzweck, sondern die direkte Folge eines außer Rand und Band laufenden Systems, in dem selbst der Ehrbegriff nichts mehr gilt. Der Nihilismus, der aus diesen zu Comic-Figuren mutierten Gangstern spricht, hätte vielleicht eine Dosis weniger Humor vertragen können; umgekehrt bedient sich Kitano eines ästhetischen Abstraktionsgrads, der an andere japanische Stilisten wie Seijun Suzuki erinnert.

Biedere Paarbeobachtung

Überhaupt wird der Wettbewerb bisher von Regisseuren dominiert, die ihre Methode längst gefunden haben: Dass dies mitunter zur Routine werden kann, zeigt sich an Mike Leighs neuem Film Another Year. Im Zyklus der Jahreszeiten folgt er dem Paar Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen) und einigen ihrer Freunde, wie immer mit genauem Blick auf das Wechselspiel von Gefühlslagen, die mit einer breiten Palette an Ausdrücken vermittelt werden. Der für den britischen Filmemacher charakteristische Fokus auf das Dasein gewöhnlicher Menschen erhält jedoch durch die Ökonomie seiner Figurenzeichnung eine seltsam biedere Note.

Während das zentrale Paar ein Beispiel zwischenmenschlicher Harmonie abgibt und sich von keinem Eindringling die gute Laune rauben lässt, sind all jene anderen, die allein geblieben sind, hauptsächlich mit der Wartung ihrer Defekte beschäftigt. Vor allem Mary (Lesley Manville), eine Arbeitskollegin Gerris, ist in ihrer nervösen Fahrigkeit, die nach Alkoholkonsum in depressives Schluchzen übergeht, etwas zu klischeehaft geraten.

Mehr Überraschungen hatte Mathieu Amalrics Tourneé zu bieten: Der französische Schauspieler hat darin selbst die Hauptrolle eines Produzenten übernommen, der mit einer Gruppe amerikanischer New-Burlesque-Striptease-Tänzerinnen nach Frankreich kommt. Verkörpert werden sie von illustren Meisterinnen ihres Fachs, die großartige Namen wie Dirty Martini tragen und auf wie abseits der Bühne mit bezwingender Präsenz agieren.

Der Film folgt zwei Richtungen, die leider nie richtig zusammenfinden, dem aufreibenden Alltag der Tournee und den Anstrengungen des Produzenten, auch in der Hauptstadt eine Bühne aufzutreiben. Amalric gelingen auf beiden Ebenen immer wieder eindringliche Szenen, in denen Rollenmuster schlagartig aufbrechen und Situationen von einer Stimmungslage in eine ganz konträre kippen: Alltag aus den Hinterzimmern des Showbusiness, aus einer Welt, die sich ganz der Gegenwärtigkeit verschrieben hat. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, DER STANDARD/Printausgabe, 18.05.2010)