Poesie als eine Frage des Blicks auf die Welt: Die großartige Yun Jeong-hie spielt Mija, die ungewöhnliche Heldin von Lee Chang-dongs Wettbewerbsbeitrag "Poetry".

Foto: Filmfestival Cannes

Schon bei der Eröffnung des Festivals in Cannes blieb sein Platz leer: Jafar Panahi ("Der Kreis") war ursprünglich als Mitglied der Jury vorgesehen. Nun ist der bedeutende iranische Regisseur, der seit Monaten in seiner Heimat im Gefängnis sitzt, in Hungerstreik getreten. Die Meldung hat das glamourselige Treiben an der Croisette aufgerüttelt. Die Frage, welchen Film die von Tim Burton geleitete Jury favorisieren wird, scheint angesichts solcher Ereignisse plötzlich recht luxuriös.

Angeblich ist Panahis jüngstes, regimekritisches Projekt Auslöser der Affäre. Kino schafft immer noch Wirklichkeiten oder lässt sie anders lesbar werden: Besonders ungewöhnlich demonstrierte das in Cannes "Autobiografia lui Nicolae Ceausescu" von Andrei Ujica, ein Film, der die Laufbahn des rumänischen Staatschefs von 1965 bis zu seiner Erschießung 1989 aus einer Binnenperspektive wiedergibt, die sich ausschließlich aus unkommentiertem Archivmaterial zusammensetzt. Drei Stunden folgt man opulenten Paraden, heroischen Staatsbesuchen und Klatschmarathons bei Sitzungen, deren zermürbende Qualitäten mit einem schwer greifbaren Surrealismus der Macht einhergehen.

Die zeitliche Distanz entfremdet das Material seinen ursprünglichen Zwecken: Wie erklärt man sich heute den Enthusiasmus für einen Mann, der mit rudernden Armen Reden hält, die sich anhören, als hätte man wahllos marxistisch-leninistische Stehsätze aneinandergereiht? Ujicas Entscheidung, abgesehen von einigen akustischen Verschiebungen, nicht ins Material einzugreifen, erweist sich als echter Coup. Der Film entfaltet einen totalitären Bilderdiskurs und bleibt zugleich offen für Irritationen - ungelenke, lächerliche oder monströse Momente lang meint man einer Realsatire zu folgen, so irrwitzig erscheinen diese Aufnahmen einer versunkenen Diktatur.

Bewährungsprobe

Im Wettbewerb sorgte unterdessen Xavier Beauvois' "Des hommes et des dieux" ("Of Gods & Men") mit einem politischen Sujet und einer fein kalibrierten Inszenierung für Begeisterung. Im Mittelpunkt des Films steht die reale Geschichte einer Gruppe von Zisterziensermönchen in einem Kloster in Tibhirine, Algerien, die 1996 auf mysteriöse Weise ermordet wurden. Beauvois interessiert sich allerdings nicht für den Kriminalfall, sondern für die Bewährungsprobe, die der Glaube zu unsicheren Zeiten zu bestehen hat.

Mit großem Feingefühl erstellt er die Porträts von Mönchen, die durch die Terrorakte islamistischer Gruppen immer mehr selbst in Gefahr geraten. Sollen sie weiter der darbenden muslimischen Dorfgemeinschaft zur Seite stehen oder dem Druck nachgeben und ihre Bastion verlassen? Des hommes et des dieux heroisiert seine Protagonisten nicht, sondern lässt sie diverse Stadien der Angst, der Unsicherheit und des Zweifels durchlaufen.

Obgleich der Film nur eine Seite des Konflikts im Auge behält, vermag er durch die Präzision der Gefühlslagen zu fesseln. Die nüchterne Mise-en-scène ist aufs soziale Miteinander ausgerichtet, aus dem sich eine Entscheidung formt, die weniger auf Märtyrertum hinausläuft als auf das reine Gewissen, das Richtige zu tun.

Lyrische Weltsicht

In "Poetry", dem neuen Film des Koreaners Lee Chang-dong, geht es um eine andere Form des Beharrens gegen die Zeichen der Zeit. Seine ungewöhnliche Heldin ist die 66-jährige Mija, eine elegante Dame, die sich mit dem Besuch eines Lyrikkurses einen langgehegten Wunsch erfüllt. Poesie, heißt es hier früh einmal, ist eine Frage des Blicks auf die Welt. Daran hält sich Lee, ein großer Regisseur widerstreitender Kräfte, nur bedingt: Der zwecklose Blick aufs Schöne wird vom Schatten menschlicher Umtriebe irritiert.

Mijas jugendlicher Enkel hat sich gemeinsam mit Freunden an einer Mitschülerin vergangen, der Fall soll nun eilig mit Geldzahlungen unter den Tisch gekehrt werden. "Poetry" ist im Vergleich zu Lees letztem Film, dem wuchtigen Melo "Secret Sunshine", ein leiserer, zärtlicherer Film, der dennoch ähnlich vielschichtig bleibt. Das nicht eben geruhsame Dasein von Mija, deren Erinnerung durch eine beginnende Alzheimer-Erkrankung schwindet, wird unmerklich zum Auslöser ihrer Inspiration, die sich an den unvermutetsten Stellen versteckt.

Nicht zuletzt Yun Jeong-hie, eine bekannte koreanische Schauspielerin, die hier in ihrer ersten Rolle seit 15 Jahren agiert, macht den leicht parabelhaften Film mit ihrem scheuen Lächeln und unvoreingenommem Blick auf ein ungnädiges Umfeld zu einer bewegenden Erfahrung. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes / DER STANDARD, Printausgabe, 21.5.2010)