Wien - Eine Geschichte, die in einem Coconut-Bar-Motel in der Stadt Trois-Rivières am Sankt-Lorenz-Strom in Québec losgeht - wer folgt ihr nicht gern? Die kanadische Performerin Marie Brassard wählt einen verführerischen Ausgangspunkt für eine Ich-Erzählung, die alsbald die Koordinaten der Realität verlässt und sich in einem Sog transzendentaler Wahrnehmungen verflüchtigt.

Ihre poetisch-technoide Erzählkunst erinnert dabei noch entfernt an das hochentwickelte Licht- und Stimmenlaboratorium von Robert Lepage; mit ihm hat Brassard jahrelang zusammengearbeitet. Seit 2003 entwickelt sie Soloprojekte und war mit den zwei beeindruckenden Arbeiten The Darkness (2004) und Peepshow (2005) bei den Wiener Festwochen zu Gast. Deren sinnlicher Frontalerzählweise ist Brassard auch in der jüngsten Arbeit treu geblieben. Sie ist noch heute, Samstag, im Brut Künstlerhaus zu sehen.

In Me Talking to Myself in the Future entsteht aus live computergenerierten Stimmen sowie schwindelig machenden, amorphen Leinwandprojektionen ein Erzählstrom, in dem Erinnerungen an die Kindheit bzw. Fantasien über die Zukunft als Traumgebilde entschlüsselbar werden. Die Vorstellungen von beispielsweise blutigen Kinderhänden, von einem Zimmer voller verschlossener Türen oder von - Achtung - gefrorenen Tieren markieren Räume jenseits der Realität. Die einmal plötzlich aus der Bühnenfinsternis auftauchende Blutlache am Boden neben dem Mikrofon der Erzählerin bedeutet da einen Überfall durch das echte Leben.

Genau dahin geht die Beobachtung Brassards: Was von mir existiert wirklich? Was davon ist traumhafte Erfindung? Wie verliert man die Kontrolle über seine Gedanken? Und worin unterscheidet sich das alles voneinander? Jonathan Parant und Alexandre St-Onge an den Laptops sorgen für eine größtmögliche Durchdringung dieser Wahrnehmungswelten, die wie zu einem Lied verschmelzen und nie mehr zur Coconut-Bar zurückführen. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe, 22./23./24.05.2010)