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Steven Scharf (l-r), Katja Büerkle und Hans Kremer.

Foto: APA / Tobias Hase

Wien - Es sind überaus kultivierte Menschen, die das Wiener-Festwochen-Publikum von der Bühne des Akzent-Theaters herab jovial begrüßen. Fünf Boten beiderlei Geschlechts in piekfeiner Abendgarderobe, die über das Massaker an 180 Juden im burgenländischen Rechnitz während eines NS-"Gefolgschaftsfestes" 1945 Bericht erstatten sollen.

Das Dilemma dieser Gesellschaftslöwen ist ihre trostlose Beredtheit. Die Figuren in Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) verschweigen nicht etwa das Vorgefallene. Sie sind im Gegenteil über den Hergang der Bluttat genauestens orientiert: Angetrunkene Nazi-Bonzen nehmen auf dem Schloss der Gräfin Batthyány 180 "arbeitsunfähige" Juden ins Visier. Sie lassen die Opfer ihrer Schießwut beim sogenannten Kreustadl verscharren. Sie verwischen die Spuren derart gründlich, dass der Großteil der Leichen bis auf den heutigen Tag unentdeckt geblieben ist.

Jelineks Text leistet die von den Anwohnern hartnäckig verweigerten Grabungsarbeiten: Er kreist die letzte Ruhestätte der Beschwiegenen ebenso präzise wie umständlich ein. Er lagert immer neue Sprach- und Satzbrocken auf der Oberfläche ab. Auf Jelineks Sprachbaustelle wird Ideologie hörbar gemacht: Denn je mehr gesprochen wird, desto undurchdringlicher lastet das Schweigen auf den Toten. Jelinek begrünt die Wallstatt, indem sie Beete voller Stilblüten anlegt. Sie gießt Hohn und Spott über Rechnitz aus: Es ist der Wortschaum einer an den Verhältnissen Verzweifelten.
Gesellschaftskonturen

In Jossi Wielers famoser Uraufführungsinszenierung aus den Münchner Kammerspielen erhält das Sprachgeschehen obendrein noch gesellschaftliche Kontur. In einer mit Parkettholz versiegelten Jagdstube (Bühne: Anja Rabes) zeigen fünf geschwätzige Dienstboten, was sie von der Herrschaft in Sachen "Savoir vivre" gelernt haben.

Ihr dreistes Lächeln entspringt der Einsicht, über alle Nachstellungen erhaben zu sein. Verantwortung gibt man weiter; "Schuld" haben allein jene Herrschaften, die sich 1945 rechtzeitig aus dem Staub gemacht haben.

Die Münchner Schauspieler haben ihr Repertoire an Gesten und Gemeinplätzen gegenüber der Uraufführung 2008 eher noch angereichert: Sie spreizen und winden sich im Vollbewusstsein ihrer Unantastbarkeit. Sie - man kann es nicht anders sagen - fressen Pizzaschnitten aus Kartons, auf deren Deckeln die Hoheitszeichen der Nazi-Herrschaft prangen.

Eine hohe, soignierte Dame wie die wunderbare Hildegard Schmahl schnippt die fettigsten Wurststücke vom Teigboden herunter: Ideologiefragen sind Haltungssache. In Wielers Choreografie hallen die Unarten der Bourgeoisie nach: Über dem Schießplatz mit den sich öffnenden Holzlamellen hängt der schwere Schuldgeruch, den auch die Filme von Buñuel (sein Würgeengel wird von Jelinek paraphrasiert) und Pasolini ausdünsten.

Schuld- und andere Zuständigkeitsfragen wird man im Lichte von Rechnitz (Der Würgeengel) jedenfalls neu stellen müssen. An den Wänden der Jagdhütte können knallrote Beichtsitze heruntergeklappt werden. Kopfhörer laden zur aktiven Verdrängungsarbeit ein, und durch den Windfang der Türe werden wunderbare Proben der Kürschnereikunst hereingeweht.

Man aast im Wohlstand. Man liefert Haarspaltereien (André Jung) ab und weiß sich der eigenen Sache sicher: Man müsse bloß "alles, was war, umschaffen, nein, umschiffen, nein, bis allein unser Wille spricht". So gewitzt muss man erst einmal lügen können. Die Finger der Dienstboten verschwinden im Schlagobers auf den Torten. Süß ist die Erinnerung, und sie ernährt vor allem die Täter. Die fantastische Aufführung ist am 31. Mai in ORF 2 als Teil eines kultur.montag-Spezials zu sehen. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 25.5.2010)