Die "Straße der Verlierer" ist nur verkehrstechnisch eine Sackgasse.

Foto: Blei/derStandard.at

Hier treffen sich ehemalige Häftlinge und Obdachlose zu einem warmen Essen.

Foto: Blei/derStandard.at

Das Essen wird dabei sowohl an- als auch wieder abserviert.

Foto: Blei/derStandard.at

Leiter Norbert Karvanek mit Jugendlichen beim "Sozialen Kochen".

Foto: s'Haeferl

Die Jugendlichen kümmern sich dabei um die Zubereitung und Ausspeisung des Essens.

Foto: s'Haeferl

Seit 2005 gibt es auch eine finanziell beitragslose Malgruppe im "s'Häferl".

Foto: s'Haeferl

"Nach der Haft fängt die eigentliche Strafe erst an", sagt Norbert Karvanek und nimmt einen Schluck aus seinem Kaffeehäferl. "S'Häferl" ist dabei schon das Stichwort, denn so heißt die Einrichtung der er vorsteht und die sich zum Ziel gesetzt hat, Haftentlassenen und Leuten am Rande der Gesellschaft ein soziales Umfeld zu bieten. "Wir sind aber kein Verein Neustart, ich kann niemandem etwas versprechen, bei uns funktioniert Hilfe niederschwellig", erzählt Karvanek.

Die Zahl der Gäste steigt kontinuierlich

Dreimal die Woche öffnet sich das Gartengatter in der Sackgasse Hornbostelgasse 6 (vom "s'Häferl" in "Straße der Verlierer" umbenannt) im sechsten Wiener Gemeindebezirk für Menschen, die ein warmes Essen suchen. An jedem Mittwoch, Samstag und Sonntag kocht das Team aus freiwilligen Helfern in der kleinen Küche der evangelischen Unterkirche auf und legt dabei Wert auf Service: „Bei uns holen sich die Leute nicht selbst das Essen, sondern es wird an- und natürlich auch wieder abserviert", sagt Karvanek. Dieses System ist unter anderem auch dafür verantwortlich, dass die Zahl der Gäste zurzeit "explodiert". "Haben wir im vergangenen Jahr noch durchschnittlich knapp 76 Essen pro Tag ausgegeben, so waren es im Jahr 2010 im März 86 Stück, im April 92 und im Mai stehen wir schon bei 116 Essen", erzählt Karvanek, der auch für die Statistik zuständig ist.

Schwierigkeiten bei der Standortsuche

Die Idee zum "s'Häferl" kommt von der evangelischen Gefangenenseelsorgerin Gerlinde Horn, die mit einer Einrichtung Haftentlassenen und Freigängern einen Ort bieten wollte, um sich auszutauschen. Das "Ur-Häferl" befand sich damals in der Neugasse, scheiterte aber schon bald am Widerstand der Anrainer und Hausparteien. Als Horn schließlich die evangelische Unterkirche für ihr Projekt zur Verfügung gestellt bekam, war das gesamte Areal laut Karvanek eine "Schutthalde". Ein Ziviltechniker stellte einen Kostenvoranschlag für die Renovierung und errechnete eine Gesamtsumme von über einer Million Schilling - zu viel für die Einrichtung, die sich damals ausschließlich über Spenden und begrenzten Eigenmitteln finanzierte. Erst als Horn kurz darauf 550.000 Schilling für das Vorhaben vererbt wurden, kam das Projekt wieder in Schwung.

Der Leiter: selbst ein ehemaliger Häftling

Heute ist die Einrichtung ein offizieller Teil der Wiener Stadtdiakonie und wird von Organisationen wie der "Wiener Tafel" oder auch dem Justizministerium durch Sachspenden oder finanzielle Hilfe unterstützt. Norbert Karvanek ist seit acht Jahren in das Projekt integriert und kennt die Probleme der Gäste genau, war er doch selbst insgesamt durch vier Haftstrafen sieben Jahre "im Häf'n". Deshalb gilt er auch als Respektperson unter den ehemaligen Häftlingen und Obdachlosen. "Zwar musste in den letzten acht Jahren nur fünfmal wegen Raufereien die Polizei kommen, aber es gibt eben immer wieder auch Unstimmigkeiten", sagt Karvanek, die sich aber jedes Mal durch einen "lauten Plärra" von ihm beseitigen ließen.

Die "Erfolgsgeschichten" der Einrichtung

Doch meistens geht es in der Unterkirche "familiär" zu und trotz der unterschiedlichen Lebensgeschichten der Gäste, ist das "s'Häferl" laut Karvanek "der Klebstoff zwischen den Leuten", was sich an so manchen "Erfolgsgeschichten" beweisen lässt. Da wäre zum Beispiel „Dementi", der Musiker, der nach einem Drogenproblem zur Einrichtung gestoßen ist und sich zurzeit in einem Substitolprogramm befindet und ehrenamtlich beim Projekt mitarbeitet. Oder Vera, eine Rollstuhlfahrerin, die sich wegen Drogenhandels in U-Haft befunden hat und noch immer einen festen Platz im Team hat. Und auch Helmut, ein Freiwilliger, war früher Stammgast an den drei Öffnungstagen, da er nach einer Scheidung hochverschuldet war und Hilfe nötig hatte. Nicht zuletzt bezeichnet sich Karvanek auch selbst als "Erfolgsgeschichte": "Ich habe es vorher nie länger als zwei Jahre in einem Job ausgehalten und schau mich an, jetzt arbeite ich schon seit acht Jahren hier und bin mittlerweile ein Angestellter der evangelischen Kirche." Deshalb lautet auch Karvaneks Leitspruch: "Gib einem Menschen Sinn und Anerkennung und die Kriminalitäts- und Drogenrate wird sinken."

Auch Menschen ohne kriminelle Vergangenheit helfen mit

Doch nicht nur ehemalige Häftlinge oder frühere Stammgäste helfen bei der Essensausgabe mit, sondern auch Personen ohne einschlägiger Vergangenheit. So opfert immer wieder eine Frau ihre spärliche Freizeit neben ihrem Vollzeitjob und teilt Essen aus oder bäckt die Frau eines amerikanischen Diplomaten jede Woche Kuchen und andere Mehlspeisen für die Gäste. Schon seit ein paar Jahren kann auch jeder junge Mann seinen Zivildienst bei dem Projekt ableisten und die meisten seiner Zivildiener bleiben der Einrichtung später weiter erhalten. Immer wieder helfen auch Kinder und Jugendliche im Rahmen des "sozialen Koches" in der Küche mit. „Das macht immer besonders viel Spaß", sagt Karvanek.

Anlaufpunkt für sozial Ausgegrenzte

Es wird aber nicht nur mit einem warmen Essen geholfen, sondern  auch auf anderen Ebenen versucht ein Anlaufpunkt für sozial Ausgegrenzte zu sein. Deshalb gibt es ein Kleidungsdepot, das sich im Speiseraum befindet und aus dem jeder Bedürftige Kleidungsstücke nach Bedarf beziehen kann. Seit fünf Jahren trifft sich auch immer wieder eine finanziell beitragslose Malgruppe in der Unterkirche, die durch ein Projekt der IG-Kultur im Auftrag der Bezirksvorstehung mit dem Titel "6ter Sinn" an dem auch Gäste der sozialen Einrichtung teilnahmen, entstanden ist. Damals malten sie abstrakte Bilder zu den fünf menschlichen Sinnen und ließen schließlich den 6. Sinn (das "G'spür") im Rahmen einer Veranstaltung rauben und von den Besuchern "freikaufen". Aus diesen Einnahmen wurde dann die Malgruppe finanziert.

Sackgassenfest als Highlight

In unregelmäßigen Abständen organisiert Norbert Karvanek auch sogenannte "Dokussionen", bei denen Dokumentationen in der Unterkirche gezeigt werden und anschließend unter den Gästen diskutiert werden. „Dabei kann es auch schon ein wenig lauter werden", erzählt Karvanek und lächelt. Das Highlight des Veranstaltungskalenders ist aber sicher das jährliche "Sackgassenfest", bei dem zehn bis zwölf Bands am zweiten Septemberwochenende in der "Straße der Verlierer" auftreten. "Ich bin jedes Jahr fasziniert wie viele Leute da kommen, vor allem weil im vergangenen Jahr die Band Kreisky da war. Da ist es dann so richtig abgegangen", erzählt Karvanek. Der Reinerlös aller Aktionen kommt natürlich dem "s'Häferl" zugute.

"Die Häfn Cooker"

Für die "Lange Nacht der Kirchen" am 28. Mai 2010 hat sich Karvanek gemeinsam mit der evangelischen Kirche ein besonderes Event einfallen lassen: eine Kochshow in der Gustav-Adolf-Kirche in Gumpendorf ("Die Häfn Cooker"). Dabei wird ab 23.50 Uhr im Rahmen eines kleinen Theaterstücks gekocht, gegessen und die Geschichte der Einrichtung unterhaltsam auf Wienerisch präsentiert, unter anderem unterstützt von den "Erfolgsgeschichten" Vera und Dementi. "Die Besucher erhalten dort dann das gleiche Essen wie unsere Gäste am nächsten Tag", erzählt Karvanek, "und unter denselben Bedingungen: serviert und kostenlos." (Bianca Blei/derStandard.at/28.05.2010)