Köhlmeier über Liessmann: Der Philosoph hat uns nicht über eine breite Straße geführt, die er längst planiert hat, er hat uns mitgenommen - hinein in den Urwald. Er hat den Pfad geschlagen; wir sind ihm gefolgt ...

Konrad Paul Liessmann, geb. 1953 in Villach, ist Prof. am Inst. für Philosophie an der Uni Wien. Am 16. August erscheint sein neues Buch "Das Universum der Dinge - Zur Ästhetik des Alltäglichen" (Zsolnay). Er erhielt gerade den Donauland-Sachbuchpreis; der hier abgedruckte Text ist Köhlmeiers Laudatio zu diesem Anlass.

Foto: Andy Urban

Michael Köhlmeier über Konrad Paul Liessmann

Dem Katholiken ist die Wahrheit etwas Äußerliches. Sie ist die Domäne seines Gottes. Ergo erscheint sie ihm als etwas Unergründliches – muss ihm als etwas Unergründliches erscheinen, anderenfalls macht er sich der Sünde der Hoffart schuldig. Deshalb irrt sich der Katholik mit Begeisterung und lügt hemmungslos – und gibt damit seinem Schöpfer die Chance, Gnade walten zu lassen. Dem Protestanten hingegen wurde das Feld der Wahrheit zur Bearbeitung anvertraut. Seither kennt er die Ruhe nicht. Er muss denken. Und er muss laut denken; denn die Wahrheit gehört allen, was nützt sie, wenn sie nicht weitergegeben wird.

Konrad Paul Liessmann ist von seiner Herkunft Protestant. Er denkt, und er denkt laut; und es gibt in unserer Republik niemanden, dem ich lieber zuhöre. Ich bin von meiner Herkunft Katholik. Dennoch darf ich mir einbilden, wir beide passen gut zueinander.

In seinem essayistischen Text Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden rät Heinrich von Kleist: "Wenn du etwas wissen willst" – und was anderes kann man wissen wollen als die Wahrheit – "und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharf denkender Kopf zu sein. Auch meine ich es nicht so, dass du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen." Kleist empfiehlt das Sprechen, nicht um den anderen zu belehren, sondern sich selbst Klarheit zu verschaffen. – Auch Kleist war Protestant.

Ein scharf denkender Kopf

Ich weiß nicht, ob ich ein scharf denkender Kopf bin, zweifle oft daran; ein "nächster Bekannter" , der Konrad Paul Liessmann schon des Öfteren "aufgestoßen" ist, bin ich gewiss. Und jedes Mal kam ich in den Genuss, ihm beim Denken zuzusehen und zuzuhören. Seit einigen Jahren treiben wir beide ein Spiel miteinander; ein Spiel, das man zu zweit nicht spielen kann, das unter allen Umständen vor Publikum gespielt werden muss. Wir nehmen uns gemeinsam ein Thema vor – zum Beispiel den biblischen Sündenfall – , und dann denke ich einen Monat oder länger darüber nach, wie ich ihm eine gute Stunde auf der Bühne schwermachen könnte; und schließlich sitzen wir nebeneinander, ich erzähle dem Publikum – der Jury -, ein Märchen oder eine Sage oder eine Geschichte aus der griechischen oder hebräischen Mythologie, und der Philosoph hat gerade so viel Zeit, wie mein Vortrag dauert, um darüber nachzudenken, wie er die Geschichte interpretieren, wie er sie in einen geistesgeschichtlichen Kontext stellen, wie er sie nach verborgenen Symbolen – auch mir verborgenen Symbolen – absuchen soll, kurz: wie er das Licht der Aufklärung, das, wie wir wissen, seine Energie zu einem beträchtlichen Teil aus der Steckdose des Protestantismus bezieht, in das Geraune lenken soll, das bekanntlich umso besser raunt, je mehr die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verwischt sind.

Denken heißt, Verbindungen herzustellen; und die besten Gedanken stellen Verbindungen her, die bisher noch nicht gestiftet worden sind. Welche Freude, welche Lust! Wir sehen dem Philosophen dabei zu, wie er sein Feld bereitet. Zunächst scheint uns, er zirkle einen uns geläufigen Bezirk ab. Unsere Trägheit im Geist lässt uns hoffen, wir dürfen gleich bei jedem Satz, bei jedem Wort beifällig nicken, weil die Ausführungen ja nur bestätigen, was wir selbst schon immer über dieses Thema dachten. Dann führt uns der Philosoph näher an die Sache heran – genau das haben wir erwartet -; er zückt die Lupe seines Scharfsinns, weist uns auf Feinheiten hin, die wir bisher übersehen hatten – auch damit rechneten wir, er beweist uns damit ja nur, dass wir auf dem richtigen Weg waren -; er erklärt uns, dass die von uns übersehenen kleinen Dinge zu großen Dingen werden, je tiefer wir in ihr Wurzelwerk graben. Und gerade als wir glauben, endlich bei den Kapillaren unserer Sache angelangt zu sein, springt der Philosoph in die Ausgangssituation zurück und konfrontiert uns mit Fragen, die das Bohrloch hinab zur Wahrheit, das wir eben erst mit so viel Sorgfalt ausgehoben haben, mit einem Wurf wieder zuschütten – zum Beispiel: Ist der Sündenfall, in dessen Folge uns Gott aus dem Paradies verjagt hat, nicht gerade die notwendige Voraussetzung für jenes Wesen, dass Gott sich zum Ebenbilde hatte schaffen wollen, nämlich den freien Menschen? Und wir müssen mit dem Graben wieder von vorne anfangen. Das Paradies erscheint uns nun als ein Kerker und die Natur als eine Fessel.

Der Philosoph hat uns nicht über eine breite Straße geführt, die er längst planiert hat, er hat uns mitgenommen – hinein in den Urwald. Er hat den Pfad geschlagen; wir sind ihm gefolgt, dicht hinter ihm waren wir. Wir waren der Zöllner, der den Laotse auf dem Weg in die Emigration angehalten und von ihm verlangt hat, das Buch Taoteking niederzuschreiben, wie uns Bertolt Brecht in seinem berühmten Gedicht erzählt. Und das gereicht auch uns zur Ehre!

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt;
Er hat sie ihm abverlangt.

Unsere erste Begegnung fand in einem Wirtshaus statt. Dort saßen wir im Anschluss an eine Veranstaltung der Alten Schmiede zufällig nebeneinander am Tisch. Das ist nun tatsächlich schon fünfundzwanzig Jahre her. Wir stellten uns einander vor, und ich dachte, der hier ist also der Mann, der in der Presse Marianne Fritz' dreitausend Seiten umfassendes Mammutwerk Dessen Sprache du nicht verstehst besprochen hat. Er dachte – wie er mir später erzählte -, das ist also der Mann, der in Ö1 Marianne Fritz' dreitausend Seiten umfassendes Mammutwerk Dessen Sprache du nicht verstehst besprochen hat. Beide dachten wir: Wir sind die Einzigen in diesem Land, die dieses Buch gelesen haben. Nach unserem Gespräch wusste ich: Wir haben beide dasselbe Meer befahren, aber wir sind in verschiedenen Booten gesessen. Unsere Herangehensweisen an dieses solitäre Werk der Literatur, so verschieden sie sein mochten, ergänzten einander auf eine, jedenfalls für mich, beglückende Weise: die analytische Methode und eine narrative Methode. Das Analytische, in der Mathematik wie in jeder anderen Geistesforschung, hat mich immer in den Bann geschlagen; vielleicht weil ich darin ein Werkzeug erkannte, das in meinem dampfenden katholischen Uterus nicht vorgesehen war. In Konrad Paul Liessmann erkannte ich den großen Bruder, den ich nie gehabt hatte.

Der große Bruder

Als die Idee aufkam, in Lech am Arlberg eine philosophische Veranstaltungsreihe zu etablieren, wurde gefragt, wer denn in der Lage sei, so eine Reihe zu verantworten – und da war für mich klar: nur einer – Konrad Paul Liessmann. Bei vergleichbaren geistigen Großveranstaltungen rechnet man damit, dass einige Jahre vergehen, ehe sie sich im öffentlichen Bewusstsein behaupten, ehe sie die Aufmerksamkeit erlangen, die ihnen zusteht. Das erste Thema in Lech war Das Böse, und das Medienecho war überwältigend. Die Feuilletons aller großen deutschsprachigen Zeitungen berichteten ausführlich, und mit wem auch immer ich im darauf folgenden Jahr über das Philosophicum Lech sprach, es war, als hätte diese Veranstaltung bereits eine ehrwürdige Tradition. Von allem Anfang an war es für die Referenten – und nur die Besten der Besten werden geladen – etwas Besonderes, ja eine Ehre, in Lech vorzutragen. Vornehmeres auf diesem Gebiet findet sich im deutschsprachigen Raum nicht. – Das muss dem Professor Liessmann erst einer nachmachen.

In der Wahl der Themen bewies Liessmann ein geradezu unheimliches Gespür. Er setzte den Krieg aufs Programm, und prompt blies der unselige George W. Bush zum Feldzug gegen den Irak; er entwarf eine Vortragsreihe über die Freiheit des Denkens, und als wär's abgesprochen, drängte die Gehirnforschung mit ihren Ergebnissen auf die Frontseiten der großen Qualitätszeitungen; er beharrte gegen das Stirnrunzeln mancher Schöngeister auf dem Thema Geld, und wir diskutierten in Lech unter dem Dröhnen der zusammenbrechenden Banken. Im kommenden September werden wir vier Tage lang über den Staat nachdenken. Nennen Sie mir ein Thema, das zu behandeln zurzeit dringender wäre! Jedes Jahr sind wir gespannt, was sich Herr Liessmann als Nächstes ausdenken wird – ein bisschen fürchten wir uns auch davor.

Wir alle kennen seine Werke. Vielleicht nicht alle kennen alle, es sind so viele; kein Wunder: Der Philosoph – zumal der protestantischer Herkunft – muss sein Wissen teilen, und es ist gut, wenn er der Welt zeigt, zu welchem Zweck Wissen erworben werden soll. Wir beide, Konrad, das weiß ich, kennen den höchsten Zweck: Es ist die Schönheit. Dein letztes Werk trägt diesen Titel. Durch alle deine Bücher zieht sich ein Gedanke: Der Mensch wurde vielleicht aus dem Garten Eden vertrieben; aber in diesen will er nicht mehr zurück, denn er hat inzwischen die Vision eines anderen neuen Paradieses, und auch wenn er nicht weiß und nie wissen wird, wie es aussehen wird – schön muss es sein. (Michael Köhlmeier, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 29./30.05.2010)