Fred Vargas
Fliehe weit und schnell.

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
€ 22,70/399 Seiten.
Aufbau Verlag, Berlin 2003.

Foto: Buchcover

Die französische Autorin mit dem merkwürdig androgynen Namen ist hauptberuflich Archäologin. Und als solche vergräbt sie sich beharrlich in die entlegensten Seelenverrücktheiten ihrer seltsamen Figuren. Die haben völlig irrwitzige Berufe und stoßen auf verhaltensgestörte Vermittler, die sich mit schweren Traumata herumschlagen und aus einem Haufen Hundedreck einen Mordfall rekonstruieren (Das Orakel von Port-Nicolas).

Ein arbeitsloser bretonischer Kapitän hat sich in Paris einen neuen, eigentlich uralten Job erfunden. Er betätigt sich als Ausrufer. Das geht so: Leute, die ein "Inserat" aufgeben wollen, weil sie zum Beispiel Gemüse zu verkaufen haben, stecken den Zettel nebst Kleingeld in eine öffentlich aufgestellte Urne. Die Nachrichten werden dann zu fixen Zeiten vom Exkapitän laut verlesen. Aber plötzlich tauchen in der Kiste unter den alltäglichen Notizen beunruhigende Textfragmente auf. Sie stammen offensichtlich aus vergangenen Jahrhunderten und handeln von einem drohenden Unheil. Jemand kündigt den Ausbruch der Pest an. Magische Zeichen werden an Wohnungstüren gepinselt und bald werden Tote gefunden. Sie sind allerdings nicht an der Pest gestorben, obwohl man Rattenflöhe in ihren Wohnungen gefunden hat; sie sind vielmehr erwürgt und danach mit Holzkohle geschwärzt worden, um so den Eindruck von Pesttoten zu erwecken. Unter den Mordopfern muss irgendeine Art von Beziehung geherrscht haben, aber mit dieser Annahme kommen die Ermittler nicht weiter.

Solch bizarre Plots und abartige Inszenierungen sind typisch für Fred Vargas. Der Ermittler mit dem deutschen Namen Adamsberg, sozusagen ein emotionaler Verwandter von Vargas' früherem Polizisten Louis Kehlweiler (der ständig eine Kröte mit sich trägt), ist nicht weniger seltsam als die Mordfälle. Adamsberg verlässt sich nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Intuition, die etwa durch einen plötzlich aufleuchtenden Lichtreflex in Gang gesetzt wird.

Vargas schreibt außerordentlich spröde; hier werden keine Putzigkeiten ausgetauscht, keine Sentimentalitäten. Stattdessen ist oft eine unterdrückte Wut zu spüren über eine ungerechte Welt, in der die Schuldigen davonzukommen scheinen und die Unschuldigen bestraft werden. Auf jeden Fall ist Fred Vargas eine der außergewöhnlichsten Erscheinungen auf dem Krimimarkt. Und der ist ja nicht gerade schütter besetzt. (Von Ingeborg Sperl/DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 19./20.4.2003)