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Das russische Volk ist mit Natalja Iwanowna (Kathrin Angerer), ihrem Nachwuchs und ihren bei Dostojewski entliehenen Pamphleten auf dem besten Weg in eine revolutionäre Zukunft.

Foto: APA/Schlager

Wien - In Frank Castorfs Festwochen-Koproduktion Nach Moskau! Nach Moskau!, die im September die Saison an der Volksbühne Berlin eröffnen wird, sind die Menschen der Provinz sichtbar schlecht behaust. Die vom zaristischen Russland in Stich gelassenen Tschechow-Protagonisten aus der Erzählung Die Bauern (1897) bewohnen eine überaus zugige Holzhütte direkt neben den von der Fadesse des Landlebens gezeichneten Drei Schwestern (uraufgeführt 1901). Deren Holzterrasse (Bühne: Bert Neumann) bietet wiederum und gerade wegen dieser Nachbarschaft eine äußerst schlechte Aussicht.

Nach Moskau! Nach Moskau! möchten sie alle gern, weil sie dort die Erlösung aus ihren bedeutungslosen Existenzen erhoffen - und insgesamt ein wenig mehr an Poesie. Was helfen schon die roten Strümpfe der Irina (Maria Kwiatkowsky), wenn es in der Pampa an dazu passenden Männern fehlt! Vor allem aber wollen sie ins Zentrum, weil sie das, was man Demokratisierung oder Industrialisierung nennt, in ihrer Einöde nicht erreichen werden. Sie möchten teilhaben am echten Leben und sind in Tschechow'scher Farcenhaftigkeit dazu verdammt, das zu ersehnen, was sie nie sein werden: Zeitgenossen.

Das Sozialdrama der verarmten Bauern und die tief sitzende Sinnlosigkeitsempfindung des Bürgertums zu Ende des 19. Jahrhunderts haben in diesem Castorf-Theater der klassischen Schule nur mehr als miteinander operierende Zitate Platz. Hier wird kein Drama behauptet, sondern mithilfe exzentrischer Spielfiguren (die Schauspieler wirken zuweilen wie Puppen) eine geschichtliche Scharfstellung vollzogen, die das Unbehagen einer Wendegesellschaft, das revolutionäre Vorglühen durchscheinend macht.

Dank des in vieler Hinsicht noch immer einzigartigen Volksbühne-Ensembles (Milan Peschel, Sir Henry, Lars Rudolph und endlich wieder: Kathrin Angerer!) erreicht das ordentlichen Witz und bleibt selbst in arg zugerichteten Slapsticknummern mit traumwandlerischer Sicherheit eine ernsthafte, stimmgewaltige Auseinandersetzung mit den gesellschaftsphilosophischen Nöten des Ostens; Dostojewski und Heiner Müller immer mitgedacht.

Auf der im Hintergrund von einem naturalistischen Waldprospekt begrenzten Bühne pflegen die Bauern ihre Untüchtigkeit plus Trinkkunst. Ihren Pflug benützen sie nur mehr als Symbol zum Nachstellen idealisierter Revolutionsgemälde aus der Tretjakowgalerie! Allen voran Bernhard Schütz als grober Senior Osip, der seine pädophilen Gelüste gegenüber der Gattin immerhin mit "Tschuldigung, Mutter" quittiert. Und wenn er die rote Fahne durch die Dachluke streckt, sagt er: "Zusammen mit dem Pflug ist das eine Metapher!" - Castorfs Figuren haben ihre eigene Zeichenhaftigkeit schon immer bestens begriffen.

Die beiden Texte durchdringen einander auch szenisch: Das Rauchwölkchen in den Schnürboden absondernde Öfelchen der Bauern ist zugleich die Wärmestube der Schwestern Irina, Mascha (Jeanette Spassova) und Olga (Silvia Rieger). Ihr Bruder Andrej (Trystan Pütter), der im Hofnarrensweater und mit Retro-Kinderwagen dazu angehalten ist, den ersten Hausmann der russischen Moderne bzw. einen Prenzlauer-Berg-Bio-Papi zu spielen, vergeigt im Kasino das Familienerbe. Aber in 200 Jahren wird sich dieser Niedergang gelohnt haben. Ziemlich sicher sogar. (Margarete Affenzeller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.6.2010)