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"Ich bin kein Pessimist, sondern bloß ein gut informierter Optimist" , war Credo des Literaturnobelpreisträgers, überzeugten Kommunisten und Intellektuellen von Weltrang, José Saramago.

Foto: APA / Guiseppe Giglia

Lanzarote - Die Heimsuchung beginnt an einer Straßenkreuzung. Wenn Menschen plötzlich den Sehsinn verlieren, können sie sich an keine Ampelregelung mehr halten, fahren einander in die Parade, herrscht gleich ein riesiger Stau. Eine Stadt stürzt ins Chaos, weil sie eines hellen Morgens zu einer Stadt der Blinden geworden ist. Die Szenen, mit denen der gleichnamige Film von Fernando Meirelles beginnt, sind ein eindringliches Bild für die Abhängigkeit des menschlichen Zusammenlebens vom Augensinn: Wenn wir einander nicht ins Gesicht sehen können, ist die Barbarei gefährlich nahe.

Wo genau diese Stadt der Blinden liegt, geht aus dem Film nicht hervor, schon die literarische Vorlage lässt diesen Umstand im Unklaren. Sie stammt von dem portugiesischen Nobelpreisträger José Saramago, er veröffentlichte Die Stadt der Blinden im Jahr 1995, und ausnahmsweise erteilte er auch eine Genehmigung für eine Verfilmung, die allerdings deutlich in einer Globalgesellschaft spielt und keinen Rückbezug mehr auf den portugiesischen Ursprung der Geschichte erkennen lässt. Das ist in gewisser Weise symptomatisch für das literarische Schaffen Saramagos, das sich allmählich aus dem spezifischen Kontext eines kleinen Landes mit einer Weltsprache emanzipierte und vor Allegorien auf das Schicksal der Gattung nicht zurückscheute.

Eine wichtige Station auf diesem Weg war 1991 der Roman Das Evangelium nach Jesus Christus, der von der katholischen Kirche als blasphemisch eingeschätzt wurde. Jesus wird darin sehr menschlich geschildert. Interessanterweise lässt ihn der bekennende Atheist Saramago aber doch in Beziehung zu Gott treten; er erzählt tatsächlich das Geschehen der Evangelien, wenn auch aus einem stets unkonventionellen Blickwinkel (so wird Josef zum Beispiel eine Schuld am Kindermord von Bethlehem zugeschrieben). In den Auseinandersetzungen um das Buch fühlte sich Saramago von der damaligen portugiesischen Regierung nicht ausreichend unterstützt. Er übersiedelte mit seiner Frau nach Lanzarote, blieb aber Bürger und Steuerzahler von Portugal.

Spiel mit Formen und Wissen

Auf der vulkanischen Kanareninsel entstand im Lauf der Jahre neben der literarischen Produktion ein umfangreiches Tagebuchwerk, seit zwei Jahren auch in Form eines Blogs, in dem er seine eher aphoristische Seite ausleben konnte (eine deutsche Auswahl ist für diesen Herbst angekündigt). Die Sprache seiner Romane hingegen ist überwiegend anspruchsvoll und zeichnet sich auch in der deutschen Übersetzung durch lange Satzkonstruktionen aus. Es ist der Stil eines "homme des lettres" , der sich die Welt der Literatur nach eigenen Gesetzen erschließen musste.

José Saramago kam 1922 in dem Dorf Azingha in einfachen Verhältnissen zur Welt. Seine Eltern waren Landarbeiter, schon bald zogen sie aber in die Hauptstadt Lissabon um, wo der Vater eine Stelle als Polizist annahm. Der Sohn fand aus eigenen Stücken zu den Büchern und eignete sich neben der Arbeit bei der portugiesischen Sozialversicherungsanstalt eine umfangreiche Belesenheit an. Während der Jahre des portugiesischen Faschismus arbeitete er bei einem Verlag, veröffentlichte aber nur sporadisch eigene Texte und debütierte als Romanschriftsteller erst 1980: In Hoffnung im Alejento verarbeitete er die Erfahrungen der portugiesischen Landbevölkerung im Feudalismus und verlieh seiner kommunistischen Gesinnung erzählerisch Ausdruck.

Sein Selbstbewusstsein als Autor war durch die langen Jahre des Wartens nicht beeinträchtigt, seine dann rasch folgenden Romane zeugen von einem souveränen Spiel mit Formen und historischem Wissen. Selbst mit dem größten Vorgänger Fernando Pessoa nahm er es ausdrücklich auf, indem er in Das Todesjahr des Ricardo Reis eine der pseudonymen Figuren Pessoas auf den eigenen Autor treffen lässt - ein reflexiver Roman, in dem auch über das Schicksal der Literatur in einer unfreien Gesellschaft nachgedacht wird.

José Saramago war zweifellos der repräsentative Autor Portugals in den letzten dreißig Jahren, ein Erzähler von Ideen und ein europäischer Intellektueller von Rang. Am Freitag ist er im Alter von 87 Jahren auf Lanzarote gestorben.

Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Aus Protest gegen die portugiesische Regierung hatte er die letzten 20 Jahre auf Lanzarote gelebt. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printausgabe 19.6./20.6.2010)