Wien - Es ist evident: Die Wiener Festwochen haben heuer so stark wie selten zuvor Bezugspunkte zur Stadt erzeugt und damit eine zeitgemäße Festivalphilosophie etabliert, die sich nicht nur auf handelsübliche Theaterverschubmasse verlässt, sondern die Auseinandersetzung mit der Stadt und ihren Bewohnern sucht. In einem solchen Zusammenhang lockern sich natürlich auch Spartengrenzen - und neue Spielformen finden Eingang. Das ist erfreulich.

Hinter dem nötigen Glamour, mit dem man ein Festival bewirbt und verkauft - von Robert Lepage bis Peter Stein - hatten in der am Wochenende zu Ende gehenden Festwochen-Ausgabe vor allem Schwerpunkte wie "Generation (Ex) Yu" und mehrtägige Projekte wie Schwellenland in der Reihe "Into the City" die Nase vorn. Hier waren Wiener Lebensformen und ihre gesellschaftspolitischen Bedingungen Thema. Mit solchen Unternehmungen haben sich die Festwochen weit ins Stadtgebiet hineingearbeitet, ihre Wahrnehmbarkeit erweitert und neues Publikum gefunden.

Schauspielchefin Stefanie Carp hat dem Fokus Wien auch im Hauptprogramm Platz verschafft, etwa in der famos choreografierten Statistik 100 Prozent Wien von Rimini Protokoll oder im Stationentheater Hass im Gaswerk Leopoldau. Auch Elfriede Jelineks Kontrakte des Kaufmanns (siehe oben) nahmen bei Wiener Finanzskandalen ihren Ausgang.

Während die Sparte Oper unscheinbaren und soliden, aber ohne wirklich umwerfende ästhetische Ansätze, gehobenen Alltag (Alban Bergs Lulu, Wozzeck) imitierte, hat sich das Schauspiel heuer nach einem lahmen Start mit Luc Bondys Schnitzler-Inszenierung Sweet Nothings in einer luziden Auswahl behauptet und weiter gefestigt. Schon mit Lepages magischem Stimmenkosmos Lipsynch ging es bergauf, Alvis Hermanis enttäuschte zwar bitterlich, doch entschädigten Entdeckungen wie die New Yorker Young Jean Lee's Company oder Kornél Mundruczó. Carp, Star-Dramaturgin (im Erstberuf), weiß, in wen sie künstlerisch Vertrauen setzen kann.

Grosso modo war heuer auch auf die großen Namen Verlass: Krystian Lupa zog mit Factory2 an, Peter Stein hat das unaufgebrachte Sprechtheater im kleinen Finger (I Demoni), und auch Frank Castorf fand mit Nach Moskau! Nach Moskau! zur alten Form zurück. Es war nur nicht das Jahr von Luc Bondy. Zuletzt zog dessen aschfahle Helena weitgehend ohne innere Haltung im Burgtheater vorbei. Bis 2013 hat der Festwochen-Chef noch Zeit, sich seiner Wiener Aufgabe zu stellen. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe 19.6./20.6.2010)