Standard: Wie werden Gutachten in Obsorgestreitigkeiten erstellt?

Willmann: Wir laden Eltern und Kinder zu uns ein und besuchen sie zu Hause. Wir versuchen erst herauszufinden, an wen das Kind besonders eng gebunden ist. Bei sehr kleinen Kindern gehen wir etwa mit ihnen von den Eltern weg und schauen, wie sie sich verhalten. Bei Kindern ab zweieinhalb Jahren machen wir Zeichnungen mit ihnen und lassen sie Geschichten erzählen. Ab dem Schulalter gibt es dann standardisierte Interviews und Tests. Bei den Eltern testen wir die pädagogische Kompetenz. Das Wichtigste ist die Feinfühligkeit der Eltern: Sie müssen Signale und Bedürfnisse ihrer Kindern rasch und richtig erkennen und sich danach richten können. So eine Befundung dauert acht bis 30 Stunden, die Erstellung des Gutachtens noch einmal so lang.

Standard: Was sind die größten Schwierigkeiten?

Willmann: Wir stoßen an unsere Grenzen, wenn den Kindern von den Eltern Dinge suggeriert werden, die sie gar nicht erlebt haben. Und im Extremfall sind die Eltern nicht einmal bereit, für die Untersuchung gemeinsam mit dem anderen Elternteil in unsere Praxis zu kommen.

Standard: Was tun Sie, wenn Eltern widersprüchliche Dinge erzählen?

Willmann: Wir versuchen, uns auf unsere Eigenbeobachtung zu verlassen und nicht auf das, was die Eltern erzählen. Sie haben unterschiedliche Realitätswahrnehmungen, vor allem in Konfliktsituationen.

Standard: Ist ein Urteil immer möglich?

Willmann: Wie bei jeder Begutachtung bleiben manche Dinge im Dunklen, unser Ehrgeiz ist es, sie zu erhellen. Schwierig wird es manchmal bei Kindern, die noch nicht ausreichend viel erzählen können, oder in Missbrauchsfällen.

Standard: Können Gutachten helfen?

Willmann: Wir versuchen, lösungsorientierte Gutachten zu machen. Der Gutachtensprozess soll Eltern Impulse geben, Konsenslösungen zu finden, weil das meist zum Wohle der Kinder ist. (Tobias Müller, DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2010)