Foto: DER STANDARD / Moritz Nähr

Otto Brusatti über den Komponisten zu dessen 150. Geburtstag.

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Wir schauen sie uns jetzt an, die Bilder, seine Fotos; viele gibt es von Gustav Mahler (1860-1911). Zunächst zeigen sie einen weichen, jungen Mann, mit Bart, etwas naiv dreinschauend. Dann hält er sich schon sehr aufrecht, aufgerichtet, ein scheuer Jungmusiker, ein stolzer Jungmanager. Sodann, er hat es erreicht: Ist Direktor mit absoluter Befugnisgewalt, Konzernherr, angespannt, scharf, sportlich; er würde so (und sein prägnantestes Foto aus einer der frühesten Werbeserien im Großgeschäft mit E-Musik gilt noch immer und prunkt auf dieser Zeitungsseite zum Begutachten und Vergleichen) in jedes heutige Topmanager-Magazin passen.

Langsam werden die Bilder von ihm gebrochener, gebückter. Da hastet einer durch die Gegend, als Familienvater und Naturfreak; ist bald wie auf der Flucht; wirkt auf Gemälden vor 1910 als heftiger, gelegentlich grantelnder, auch zornig-wissender Mensch. Und endlich schaut er ganz arm aus seinen Fotos heraus, der Gustav Mahler, vor seinem Schluss; einer, der sich aufgebäumt hat, der jetzt gezeichnet, aber erhoben und sarkastisch dasteht; ein Abgelaufener und eine Gnadenfigur. 1911 bleibt nur noch der ganz kranke Mensch übrig, ungemeines Mitleid erzeugend in seiner Geschrumpftheit des Gezeichneten. Auf dem Totenbett ist er verzerrt und verklärt.

Das ist jemand, der nur 51 Jahre alt wurde, der einen Teil der Musikwelt niedergerissen hat und in den Ruinen Baustellen errichtete.

Das ist einer, der gegen sich selbst immer brutaler und zugleich weinerlicher wurde. Eine kompositorische Explosion und Implodierung zugleich. Die permanent angezettelte Revolution am Konzertdirigentenpult und im Operngraben.

Da war jemand zu oft an der Schwelle - musikalisch aber nie so einfach drüberspringend.

Als Mensch suchend, vor allem Weggabelungen suchend.

Als Mann ein Homme à Femmes von Graden und schließlich auf Sonderwegen.

Als Neu-Komponist in höchster Selbstausbeutung, Wiederverwertung, Hypertrophie und Zweifeln arbeitend - nein, nur so existieren könnend; aber das erst als Erwachsener.

Eine Höchstbegabung und doch kein Wunderkind. Dann ein europäischer Musikbegriff, bald Mentor und Feind, ein Alpha-Tier per se, nie aus dem Schwärmen herausgekommen, versteckt staunend.

Er sah sich - bewusst und zu recht und zu Unrecht - kompositorisch als Endpunkt in der nun schon 800-jährigen Erfolgsgeschichte namens europäische Tonalität. Zugleich aber empfand er sich als Neuformulierer für das, was man mit Musik sonst noch alles so anstellen kann. Er war konservativ und ein selbsternannter, selbst sich so einschätzender Weiterführer der Wiener Klassik und der Wiener Romantik. Mahler - der Symphoniker und der Liederschreiber. Gustav Mahler, der Fortschrittliche und der Zuchtmeister mittels Orthodoxie. Allein - wir blicken nochmals in die Bilder, auf die Fotos. Schauen wir uns doch seine Stirn an, eine von weiblicher Weichheit bis zum Odysseus. Oder - schauen wir bloß auf seine Hände: nicht Liszt'-sche Riesenfeingliedrigkeit, nicht die Pranken des Instrumentalvirtuosen, nicht die Zartheit vieler Musikmenschen - Mahlers Hände passen überhaupt nicht zu seiner schmalen, verletzlichen, ihn sonst so sehr charakterisierenden Gestalt, denn es sind die Finger und die Hände eines Zimmermannes.

Dieses sein Bild vor Augen, können wir heute noch gut über ihn zurückdenken und für ihn nach vorn blinzeln.

Er hat nie ein Geheimnis gemacht aus seiner psychischen Entwicklung. Im Gegenteil. Weder in seinen Kompositionen (dort schon gar nicht) noch in seinen Mitteilungen sonst. Dieser Mensch, der sich da als nervös, angespannt, sogar abweisend agierender Wiener Opernchef ablichten lässt (es war das eine Fotoserie von acht Stück, 1907 - im Jahr von Mahlers Hinausschmiss aus der Wiener Oper - von Moritz Nähr als Doku- und Werbematerial geknipst), der ist jetzt noch keine 47 Jahre alt und hat viel hinter sich.

Hat er Visionen?

Denkt dieses scheu-angespannte Energiebündel gar soeben daran? An die dürftige Jugend in Böhmen und Wien, an die herkömmlich begonnene und dann immer rasantere Kapellmeisterlaufbahn, an schon geschriebene Riesensymphonien und Lieder-zyklen, an seine bahnbrechenden Reformationswerke für die Opernbühne und sein kompromissloses Dirigieren, an die in ihm noch immer wachsenden neuen und oft noch gar nicht in seine Zeit passenden Klangvorstellungen? Oder nagt Privates an und in ihm? Hat er Visionen, etwa dass sich schon im kommenden Sommer sein Leben noch einmal total umdreht? Seine Züge drücken das - auch - aus. Seine erstgeborene Tochter wird bald und plötzlich, ein kleines Kind noch, sterben. An ihm, dem Gesundheitsfreak und manchmal übertreibenden Naturliebhaber, wird man wenige Tage danach einen Herzfehler konstatieren. Das Wiener Direktoriat ist fast (auch nach widerlichen antisemitischen und antimodernistischen Hetzen) zu Ende. Drei rastlose Jahre zwischen Europa und den USA werden noch kommen. In seinen Kompositionen wachsen Hypertrophie und dann Endzeit-Psychose weiter.

Außerdem, Mahler weiß, wohl mehr in sich drinnen, als es sich selbst zuzugeben, dass das Leben mit seiner Frau, der legendären Alma, die sich fälschlicherweise einbildete, komponieren zu können, die ihn bald betrügen und dann ein halbes Jahrhundert überleben wird, nicht glücklich ist. Er hat sich was anderes vorgestellt, als er 1902 die 22-Jährige heiratete: weiblicher Schmuck für ihn, Hausfrau, Geliebte (für den Womanizer), ein Mutterersatz vor allem. Aber zu Sigmund Freud wird sich Mahler erst in drei Jahren hintrauen. Und der vermag dann bei ihm einen veritablen Ödipuskomplex inklusive Zwangsneurosen zu konstatieren, ihm außerdem Intimstes über Alma herauszulocken und später zu meinen, Gustav Mahler sei wie ein rätselhaftes Bauwerk, durch welches man einen tiefen Schacht grabe.

Beethoven schrieb in seiner großen Lebenskrise (damals erst knapp über 30, aber im peinigenden Bewusstsein, taub zu werden), er wolle dem Schicksal in den Rachen greifen.

Mahler?

Klangmassen, Tonballungen

In der Zeit dieser Fotos werkt er an seiner 8. Symphonie, der Symphonie der Tausend, ein Monster, sein Lieblingsgeschöpf, später (nach deren Eskapismen und Betrügereien) Alma gewidmet. Man kann auch sagen, eineinhalb Stunden lang herrscht vor allem Lärm.

Für einen ersten Teil wurde der Pfingsthymnus vertont, im zweiten sind Passagen aus dem Goethe-Faust II dran. Hat dieser Mahler auf jenem Foto genau aus dieser Zeit neben den Opern- und Familien-Querelen gerade seine bis dahin in dieser Form noch nicht dagewesenen Klangmassen und Tonballungen im Kopf? Spielt sich in diesem Foto ein Kraftwerk ab, welches, wäre es nicht von Goethe und Mahler, damals wie heute kaum ein Lektor, ein Konzert-impresario, ein angeblich Kundiger in Musik und Literatur durchgehen ließe. Das beträfe beinahe alle, mit einem halben Dutzend an Solisten, x-fach besetzten Orchesterstimmen, Monsterchören, Schlagwerken, Klavieren und Orgel besetzte Passagen über dem zugrunde liegenden Text. Der nämlich liefert, und jetzt bloß zitiert aus dem Mahler-Eklektizismus und quasi unvorbereitet nachgelesen, ein wüstes Mahler-Bild und einen ziemlichen, Pardon, Absurd-Hammer.

Alles beginnt mit zwischen Klüften gelagerten Anachoreten, welche zu so etwas Ähnlichem wie einer Mahler-Goethe-Oper anheben. Es kommen in Mahler-Musik (und, schauen wir ihm auch jetzt in die Augen, auf seine Finger, auf die Schulterhaltung auf dem Foto) die bekannten Typen daher, die Patres namens Ecstaticus (der singt - sadomasochistisch - vom Zerschmettern und Durchwettern [sic], von schäumender Gotteslust und siedendem Schmerz in der Brust) oder Profundus (der sich mit Liebesboten in einen Wald begibt, wo er eine Wasserfülle vorfindet, die bis zum Schlund berufen ist, gleich das Tal zu wässern [auch sic]). Dann treten noch die seligen Knaben, jüngere Engel, vollendetere Engel, Büßerinnen und diverse Frauentypen bis zur total sich (an Sünderinnen) anschmiegenden Poenitetia auf. Schließlich wenden sich Goethe und Mahler im Donnerschall von Klang und Wort zur Himmelsmutter mit folgendem, im heutigen Verständnis nur noch unstatthaften Gedicht Blicket auf zum Retterblick, alle reuig Zarten. Euch zu sel'gem Glück, dankend umzuarten. Und am Schluss gibt es noch die sattsam bekannt gewordenen acht Zeilen vom gleichnishaft Vergänglichen und ewig Weiblichen, das uns [wen eigentlich?] hinanzieht.

Dieser Gustav Mahler war kein geschmeidiger Richard Strauss und kein konservativ-aufbegehrender Schönberg. Er begriff zwar die Salome, und er akzeptierte den anderen, auch wenn er ihm im geistigen Nachvollzug nicht folgen wollte. Aber als Mahler etwa sein Fresko von Krieg, Liebe und heiterer Natur namens Fünfte Symphonie schrieb, da hatte Strauss schon die meisten seiner blinkenden symphonischen Dichtungen hinter sich. Als Mahler das Lied von der Erde komponierte, es spielt in China, da war der exotistische Impressionismus fast schon wieder vorbei. Und als Mahler in Zitaten, Persiflagen, Todessehnsucht und Alma-Schreien an seiner Neunten und Zehnten feilte, hatte Schönberg im 2. Streichquartett, in seiner 1. Kammersymphonie und den Klavierstücken op.11 herkömmlich Tonales schon im Rücken.

Ein musikgenialer Mensch

Übrigens: Der Komponist Mahler wäre (auch von seinen Fotos her) nicht einmal theoretisch einzuordnen als ein Meister dann nach dem Ersten Weltkrieg. Und doch, welch Vielfalt und Enge der Zeit: Er wäre 1938 gerade erst einmal 78 Jahre alt gewesen! Ein Doyen, ein Mentor, aber so zumindest vorstellbar. Doch dieser scheu-aggressive Operndirektor auf dem Foto, ein Musikheiliger der letzten Monate, einer der Wichtigsten für Österreich und die Musik überhaupt, wäre als alter und vielleicht weiser, in jeder Hinsicht musikgenialer Mensch von seinen Wienern, Ex-Österreichern, Deutschen am Leben bedroht worden. Denn das NS-Regime hätte auch vor dem Weltmusiker nicht Halt gemacht und Gustav Mahler, wie Freud oder Schönberg, entweder an ein Gastgeberland teuer verkauft oder selber gleich abgemurkst.

(Otto Brusatti, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 03./04.07.2010)