Kleine Gesten, große Wirkung. Al Green, ein Gottes- und ein Lebemann, in seinem Element, dem Freudespenden.

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Wien - Schon der Eröffnungssong macht klar, Gott verlieh diesem Mann ein besondere Gabe. Er machte ihn funky, sehr funky.

Al Green steht wie aus dem Ei gepellt auf der Bühne und schnippt mit den Fingern, und es ist, als würde er tanzen. Eingebettet in eine 14-köpfige Band, eine Art Großfamilie, erhöht er langsam seinen Puls. L-O-V-E (Love) heißt der erste Song, nichts weniger als ein Manifest, die Botschaft eindeutig vieldeutig. Konkretisiert wird sie mit dem zweiten Lied, mit der biederen Aufforderung Let's Get Married. Kein Rummachen ohne Gottes Segen!

Al Green, Soul-Superstar und Reverend der Kirche des Full Gospel Tabernacle in Memphis, Tennessee, ist ein Mann mit Moral. Immer wieder. Als solcher schießt er manchmal auch ganz profan übers Ziel, etwa wenn er vor seiner Gemeinde gegen Homosexualität wettert - was gar nicht funky ist. Aber an diesem Sonntagabend, beim Jazzfest in der Staatsoper, ist das kein Thema. Oder nur selten. "Preach!" ruft einmal jemand, und der 64-Jährige antwortet: "Every song is preaching!"

Al Green ist einer der größten noch Lebenden der goldenen Soul-Ära. Geboren als Albert Greene, traf er in den späten 1960ern den Produzenten Willie Mitchell. Der hatte mit dem Southern-Soul-Titanen O. V. Wright eine Formel erprobt, mit der er Green zu Weltruhm verhelfen sollte. Waren O. V. Wrights Interpretationen außerhalb der Südstaaten zu rau, zu intensiv, um auch das weiße Publikum zu erreichen, sollte Green das gelingen.

Mitchell weichte den rohen Duktus des Gospels auf - ohne ihm seine Intensität zu nehmen. Und Greens sanfter, zum entzückten Falsett neigender Gesang war auf diesem Kuchen Sahnehäubchen und Kirsche zugleich. Mit Stücken wie dem auch in Wien gespielten Tired Of Being Alone oder Let's Stay Together eroberte er die Welt, um Mitte der 1970er prototypisch am Konflikt zwischen Glauben und weltlicher Versuchung zu zerbrechen. Fast.

Gott und Ärger

Nach einem traumatischen Zwischenfall, bei dem ihn eine Freundin mit kochender Grütze übergoss und sich anschließend das Leben nahm, wandte er sich Gott zu. Sehr zum Ärgernis seines Produzenten, der seine Erfolgsformel parallel zu Green auch auf Sänger wie erwähnten O. V. Wright, Syl Johnson, Otis Clay oder Ann Peebles anwandte. Die phänomenale Musikdoku Gospel According To Al Green von 1984 beleuchtet dieses Ereignis.

Zwar sollte Green weiterhin weltliche Alben veröffentlichen - immer wenn er Geld braucht, wie es heißt - doch in seiner Discografie findet sich ein umfangreicher Gospelkatalog. Dementsprechend vermengt der immer breit grinsende, mit kleinem Kugelbäuchlein ausgestattete Ausnahmesänger in seinen Shows Material aus beiden Welten. Während weiße Glaubensmänner in Frauengewändern und Nikolomützen die Leidenschaft des Gospels oft arrogant als antiitellektuell abqualifizieren, hat Green derlei Grenzen für sich längst aufgelöst: Nachdem er sich im Titelstück seines letzten Albums Lay It Down mit vollem Körpereinsatz auf dem Bühnenboden selbst flachlegt, erhebt er sich, um bald darauf "I was blind, now I can see" zu bekennen.

Das Publikum in der ausverkauften Oper ist zu diesem Zeitpunkt kaum mehr in den Sesseln zu halten. Dann kommt der Preacherman auch noch ins Auditorium, schlendert lässig - er ist ja funky! - den Gang hoch, schüttelt Hände und versichert den Fans, noch bevor er es selbst aussprechen sollte, dass das hier und jetzt der "Real Deal" ist. Beim Welthit Let's Stay Together kommt es fast erwartbar zur Saalerhebung, während der fiebrigen Sehnsuchtsballade How Can You Mend A Broken Heart? schält Green sich dramatisch aus dem Sakko - während sich seine Band in Ekstase spielt.

Die Mischung aus Prediger und Sexidol hat einen Showman geschaffen, der mit kleinsten Bewegungen höchste Wirkung erzielt. Weshalb die beiden Tänzer, die er stellenweise beschäftigt, vollkommen überflüssig erscheinen. Ein Hüftschwung einer der drei üppigen Chordamen, der Green Sisters, besitzt mehr Sexiness als die einstudierten Bewegungen dieser Trockenschwimmer in pistazienfarbenem Tuch.

Al, der sich sichtlich wohlfühlt in dieser fremden Kirche, verteilt langstielige Rosen und versichert uns immer wieder seiner Liebe. Er spielt uns den Clown mit der selben Hingabe wie den am Boden zerstörten Liebhaber - dabei kann die Hose schon mal nach unten rutschen. Mit seinem Schweiß segnet er die ersten Reihen. Er singt ohne Mikrofon noch genauso eindringlich wie verstärkt. Und er spielt Here I Am (Come And Take Me), wie es der heuer verstorbene Willie Mitchell erdacht hatte: Mit treibendem Klicke-di-klack-Schlagzeug, sanft federnd, unendlich verführerisch.

Seelenmassage, für immer

In Simply Beautiful, ein Song wie eine Selbstdiagnose, umschmeichelt die Gitarre jede von Green durchlittene Silbe, bevor er zum finalen Statement ansetzt: Love and Happiness.

Der Saal tobt, die Bläser, der Chor, die Orgel - alles harmoniert in eskalierender Entzückung. Plötzlich glaubt man an das Gute im Menschen, möchte zu dieser Kirche der Liebe und des Glücks konvertieren, sich weiter von Al Green die Seele massieren lassen. Wenn's sein muss - für immer. (Karl Fluch, DER STANDARD/Printausgabe, 06.07.2010)