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Am 12.Dezember 2007 musste der Wikipedia-Artikel über Christoph Blocher gesperrt werden. Nicht weil der um seine Wiederwahl kämpfende Bundesrat beschimpft worden wäre, sondern weil die Wikipedianer ständig den letzten Stand der Abstimmungen aus dem Bundeshaus einarbeiteten. Der Artikel erinnerte an diesem Tag mehr an einen Newsticker als an einen Lexikoneintrag. So ist Wikipedia: Kaum ist jemand (ab)gewählt oder gestorben - Minuten später ist der entsprechende Artikel aktualisiert.

Wikipedia gilt als die Erfolgsgeschichte des Web 2.0, des Internets und der sozialen Netzwerke schlechthin. In der deutschsprachigen Version gibt es mittlerweile über eine Million Artikel, insgesamt existieren mehr als 260 Sprachversionen. Gegen das Wissen der vielen können altgediente Lexika wie der Brockhaus längst nicht mehr mithalten. Alle nutzen die Onlineenzyklopädie: Schüler, Studierende und auch die Wissenschaftler selbst. Und ja, wir geben es ja zu, auch die Journalisten.

Vor allem Artikel zu Geschichte sind gefragt: Mit zwei Mausklicks erfährt man scheinbar alles über Alexander den Grossen, den Rütlischwur oder den Zytglogge. Lehrer und Uni-Dozenten können ein Lied davon singen, wenn sie ganze Passagen aus Wikipedia-Artikeln in den Arbeiten ihrer Schüler finden.

Zu wenig Einordnung

Was aber bedeutet das, wenn wir unser Wissen über Geschichte zunehmend aus einer Onlineenzyklopädie beziehen? Wie sollte man Wikipedia richtig nutzen? Darüber denkt Peter Haber, Privatdozent für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Basel, schon seit Jahren nach. Er verweist auf Untersuchungen, wonach Artikel zu historischen Themen zwar nur wenige Fehler enthalten, die angehäuften Fakten aber weder gewichtet noch eingeordnet würden. Aufgrund des kollektiven Schreibprozesses sei zudem die Sprache sehr einfach und voller Stilblüten.

Haber räumt aber auch ein, dass Wikipedia ein Lexikon sei und eben kein Geschichtswerk: «Das Problem scheint mir eher die Erwartungshaltung. Die Nutzer hätten gerne mehr Interpretation und Kontext. Aber dafür ist eine Enzyklopädie ja gerade nicht gedacht, bei Brockhaus sucht das auch niemand.»

Im Sommersemester war Haber Gastprofessor an der Universität Wien und führte dort ein Forschungsseminar zum Thema «Wikipedia und die Geschichtswissenschaften» durch. Die Analyse ausgewählter Wikipedia-Artikel hat Haber und seine Studierenden eher ernüchtert. Ihr Fazit: Je komplexer das Thema ist, desto grösser ist das Risiko, dass der Artikel nicht als Einstieg taugt. «Man sollte sich schon vorher etwas auskennen, bevor man bei Wikipedia nachschlägt. Wir untersuchten etwa den Artikel ‹Frühmittelalter›, der ist strukturlos und voller Lücken. Der Artikel zu ‹Aufklärung› blendet die Vielschichtigkeit des Begriffes aus: dass damit sowohl eine Epoche als auch eine geistige Bewegung gemeint ist, wird nicht deutlich.»

Prestige à la Wikipedia

Wäre das nicht eine grosse Chance für die Geschichtswissenschaft, mit ihrem Fachwissen genau diese Schwächen auszumerzen? Haber ist da skeptisch. Er verweist auf einige Kollegen, die sich sehr darum bemühen, das Niveau der Geschichtsartikel zu heben: «Ich finde das gut. Aber ich kann Historikern nicht guten Gewissens zur Mitarbeit bei Wikipedia raten, denn das kostet sehr viel Zeit und bringt für die akademische Karriere nichts.»

Weil Wikipedia sich als offen und vollkommen demokratisch versteht, nütze ein Doktortitel auf den Diskussionsseiten von Wikipedia herzlich wenig. «Dort gelten andere Reputationskriterien als in der Wissenschaft. Je mehr Edits - also Änderungen - Sie vorgenommen haben, desto angesehener sind Sie.» Ständig Artikel zu «überwachen», kleine Änderungen einzuarbeiten und sich dabei mit notorischen Besserwissern auseinanderzusetzen, kostet aber viel Energie und Zeit. Untersuchungen haben gezeigt, dass nur etwa 0,2 Prozent der Nutzer - die sogenannten Power-User - für den ganz überwiegenden Teil der Artikel und Edits verantwortlich sind. Wikipedia sei zu einer «Diktatur der Zeitreichen» geworden. Wer über viel freie Zeit verfügt, setzt sich am Ende durch.

Gefahr des Geschönten

Wegen des grossen Erfolges versuchen auch Politiker oder Unternehmen den Eintrag über sie selbst zu schönen oder gar zu manipulieren. Wie Untersuchungen von Günter Schuler zeigen, rufen rechtsextreme Gruppen vermehrt dazu auf, Artikel über den Nationalsozialismus oder den Holocaust umzuschreiben. «Hier ist die Wikipedia-Gemeinde zumindest bei den wichtigen Artikeln noch wachsam», sagt Peter Haber, «aber es ist auffällig, wie viele Artikel es zur Militärgeschichte gibt, viel mehr, als es ihrer Bedeutung zusteht.»

Für den Basler Historiker bietet Wikipedia als Forschungsgegenstand Vor- und Nachteile. Einerseits wisse man sehr wenig über die Autoren: «Viele schreiben anonym, es lässt sich nur sehr schwer etwas über ihre Person oder ihre Motivation herausfinden. Andererseits weiss man dank der Diskussionsseiten und der früheren Versionen eines Artikels - die werden ja alle gespeichert -, sehr viel über die Entstehungsgeschichte», so Haber. Um zu untersuchen, wie eine Masse Wissen erzeuge, sei Wikipedia eine Goldgrube. Die Diskussion des englischsprachigen Artikels über den Revolutionär Che Guevara ergebe ausgedruckt 900 Seiten.

Nicht immer kompetent

Wenn man die Diskussionsseiten überfliege, sehe man sehr schnell, wo es wirklich um inhaltliche Auseinandersetzungen gehe und wo um Kleinigkeiten und Besserwisserei. Den Artikel über Ignác Goldziher verfolgt Haber seit Jahren - er hat über den ungarischen Orientalisten seine Dissertation geschrieben. «Das Niveau der Diskussion ist zum Teil schon recht bescheiden, sehr schnell wird mit persönlichen Vorwürfen und behaupteten Kompetenzen gearbeitet.» Genau dieser Blick hinter die Kulissen von Wikipedia ist für Haber entscheidend bei der Nutzung.

Von einem Wikipedia-Verbot, wie das an mancher Schule oder Uni schon angedacht wurde, hält Haber daher nichts: «Wikipedia ist Teil unserer Medienwirklichkeit, deswegen sollten wir den Umgang damit üben. Meine Studierenden dürfen in ihren Seminararbeiten aus Wikipedia zitieren, aber sie müssen begründen, warum sie das tun. Dann fangen sie nämlich an, darüber nachzudenken, wie diese Artikel zustande kommen, und schauen sich die Diskussionsseiten und die Versionsgeschichte an.»

Für Schüler gelte letztlich dasselbe: Man müsse sie «Wikipedia-fit» machen. Sprich: Sie sollten in der Lage sein, Wikipedia-Inhalte abgrenzen zu können von Wissen, das auf anderen Wegen entstanden ist, wie etwa Lehrbücher.

Die Forschungen von Haber und seinen Studierenden ergaben, dass die englischsprachigen Versionen sehr oft besser recherchiert und strukturiert sind. Besonders Einträge zu Personen und Ereignissen seien gefährdet, national eingefärbt zu werden: «Wir haben uns das beispielhaft angeschaut, etwa anhand der Artikel zum Kalten Krieg. Da finden sich grundlegende Unterschiede in der politischen Einschätzung und vor allem in der Aufmachung: Während die englischsprachige Wikipedia mit einem Bild von Reagan und Gorbatschow am Kamin das Ende des Kalten Krieges visualisiert, zeigt die russischsprachige Version eine Weltkarte mit den beiden Blöcken in Rot und Blau.»

Wie steht es mit Artikeln über die Schweizer Geschichte? «Hier haben wir eine Situation, die kaum mit anderen Ländern zu vergleichen ist», sagt Haber, «denn hier gibt es das HLS, das ‹Historische Lexikon der Schweiz›.» Das sei ein qualitativ sehr hochwertiges Nachschlagewerk, das in drei Sprachen vorliege und auch online frei zugänglich sei. In der Onlineversion werde es auch behutsam aktualisiert. «Viele Wikipedia-Artikel zur Schweizer Geschichte kupfern vom HLS ab oder setzen einen Link dorthin», sagt Haber und findet das gut. ( Oliver Hochadel, Berner Zeitung, 18.07.2010)