Ein Tidenhub von bies zus zwölf Metern macht einen Gezeitenplan auf den Kanalinseln zum unerlässlichen Requisit

Jersy Tourism
Der durchschnittliche Kanalinsulaner hält sich in seinem Haus zumindest eine Hexe. Egal ob auf Jersey, Guernsey, Alderney, Sark oder Herm, werden diese - im Gegensatz zu früheren Zeiten - aber nicht grausamer Folter mit nachfolgender öffentlicher Verbrennung anheim gegeben, sondern liebevoll auf dem häuslichen Fensterbrett, Bücherregal oder auf sonstigen Abstellflächen platziert. So eine moderne Kanalinselhexe ist nämlich nicht aus Fleisch und Blut. In Form von Stoffpuppen tritt sie besonders im ländlichen Raum in Erscheinung, offiziell freilich nur zu Dekorationszwecken.

Dass die Inselbewohner ein gewisses Faible fürs Unheimliche haben, ist nicht weiter verwunderlich und lässt sich historisch begründen: Was müssen sie sich nur gedacht haben, wenn Tag für Tag der rund um sie tosende Atlantische Ozean zu gewissen Tageszeiten das Land beinah zu überfluten drohte und einige Stunden später plötzlich wieder völlig verschwunden war? Von Ebbe, Flut und Tidenhub war nichts bekannt.

Also? Zauberei, eben

Heute weiß man, dass der Golfstrom Urheber für einen Tidenhub ist, der seinesgleichen sucht. Bis zu zwölf Meter beträgt dieser und führt dazu, dass jede der Kanalinseln bei Ebbe flächenmäßig um rund ein Drittel größer ist als bei Flut. Vögel und Pflanzen mögen - zur Freude des Touristen - diese Laune der Natur sehr. Die Bevölkerung hat damit leben gelernt. Rein äußerlich auch ganz ohne Hokuspokus.

Sie baute zum Beispiel Gefährte wie das gleichermaßen mit Rädern wie mit einer Schiffsschraube versehene "Schiffsauto". Am Hafen erhält man Gezeitenpläne, und die anlegenden Schiffe liegen eben einige Stunden auf dem Trockenen. Flugzeuge landen auf Guernsey mittlerweile ganztägig, in den 50er-Jahren war das noch nicht möglich. Die Start- und Landepiste wurde damals noch täglich überspült.

Bleiben nur noch die Gefahren, in die sich unachtsame Menschen (meist handelt es sich dabei natürlich um Touristen) mitunter bringen. Die Ostküste von Jersey zum Beispiel wirkt bei Ebbe wie eine unwirkliche Mondlandschaft und lädt zum Spaziergang ein. Früher musste die Küstenwache jedes Jahr Dutzende Menschen rausfischen, bedrohlich schnell kommt das Wasser und schließt den Leichtsinnigen in Kürze ein.

Dann kommt die Flut

Oder Elizabeth Castle bei St. Helier: Bei Ebbe schlendert man den halben Kilometer gemütlich auf feuchtem Boden vom Festland hinüber. Dann kommt die Flut, und in null Komma nichts ragt nur noch das im 16. Jahrhundert erbaute Schloss aus dem Meer. Deswegen werden Touren in dieser Art nur noch mit Führern angeboten.

Wer also nicht weiß, dass die Bucht vom französischen St. Malo den Golfstrom anzieht und wieder loslässt, deshalb auch für die beinah unberechenbaren Gezeiten verantwortlich ist, kann leicht auf schräge Gedanken kommen. Was macht also der durchschnittliche Inselbewohner, wenn er auf Tatsachen stößt, die er nicht zu erklären weiß? Er entwickelt Eigenheiten.

Ganzer Stolz der Jerseyer sind etwa seine Erdäpfel. Das milde Klima und das südlich ausgerichtete Gefälle der Insel lässt die wohlschmeckenden Jersey Royals gedeihen. Die weltbesten Erdäpfel, meinen die Jersey-Bewohner.

Oder das Seeohr, "ormer"

Eine Delikatesse, neben der die an den Inselküsten exzessiv gezüchtete Auster wie ein Allerweltsgericht am Mittagstisch wirkt. Das Seeohr ist eigentlich eine Muschel, die sich mit ihrem eigenen Klebstoff an die Felsen heftet. Und mittlerweile zu den gefährdeten Arten zählt, weswegen sie selbst in Spitzenrestaurants nur noch selten auf der Speisekarte vertreten ist und ihren Marktwert dementsprechend erhöht.

Eine weitere Eigenheit freut die Wirtschaft und gehört zu dem, was man gemeinhin mit den Kanalinseln in Verbindung bringt: Steuerparadies. Rund 70 verschiedene Bankinstitute zählt allein Jersey, unzählige Anwaltsbüros und Notariatskanzleien haben ebenfalls ihren Firmensitz in Jersey oder Guernsey. Als Nicht-EU-Mitglied heben die Kanalinseln auf Kapital lediglich eine Einkommensteuer ein. Deren Höchstgrenze beträgt nebbiche 20 Prozent.

Stolze Grundstückpreise

Dafür zahlen die ansässigen Unternehmen stolze Grundstückspreise. Sofern sie, wie die meisten, aus dem Ausland kommen: Im Gegensatz zum Markt für Inländer blättern Betriebe von draußen bis zu einer Million Euro für ein 100 Quadratmeter großes Grundstück hin. Wer sich das leisten will? Firmenmitarbeiter werden so untergebracht, über die Jahre rechnet sich der teure Kauf in jedem Fall.

Die negative Begleiterscheinung dieses "Baubooms" trifft den Tourismus: Ein-oder Zweisternehotels verschwinden vor allem in den Städten immer mehr. Statt zu renovieren, werden die Billigunterkünfte gewinnbringend verkauft und vom neuen Eigentümer in Appartements umgebaut.

Übrig bleiben Hotels der gehobenen, damit auch teureren Klasse. Was dazu führt, dass zur Hauptsaison die Betten durchaus knapp werden können. Campingplätze sind rar, Wohnmobile gänzlich verboten. Wer glaubt, ein solches, als VW-Bus getarntes Exemplar einschmuggeln zu können, wird von Polizisten gnadenlos zurück aufs Festland geschickt.

Fahrende Wohnzimmer

Die fahrenden Wohnzimmer wären ohnehin völlig deplatziert, denn die Straßen sind vor allem im Landesinneren so schmal, dass nur ein Pkw durch die von Steinmauern und Bäumen eingegrenzten "Green Lanes" fahren kann. Radfahrer haben sowieso Vorrang. Und hier könnte auch der aufgeklärte Großstädter letztlich meinen, es gehe tatsächlich nicht mit rechten Dingen zu: Die Höchstgeschwindigkeit beträgt in den "Green Lanes" 25 Kilometer pro Stunde, sie wird strikt eingehalten, und die häufigste Handbewegung an Kreuzungen ist die "nach Ihnen" meinende. So zuvorkommend sind nicht einmal die Briten, von den Franzosen gar nicht zu sprechen. Unheimlich.

Dass über allen Aberglauben schlussendlich aber doch die Vernunft siegt, beweisen die Kanalinselbewohner bei ihrer Küche: Die ist nämlich eindeutig französisch beeinflusst. Und das ist einfach wunderbar. (Der Standard/rondo/25/04/2003)