Mutter und Sohn bilden eine verschworene Einheit, gegen die ein Dritter nur schwer ankommt:Jonah Hill (li.), Marisa Tomei und John C. Reilly in "Cyrus" von Mark und Jay Duplass.

Foto: Filmfestival Locarno

Einmal angenommen, jemand würde nach Locarno kommen und hätte keine Ahnung davon, dass hier gerade ein Filmfestival stattfindet: Was würde diese Person davon halten, 5000 Menschen auf der Piazza Grande vorzufinden, die einem Autoreifen dabei zusehen, wie er durch die Wüste rollt? Keinem gewöhnlichen Pneu, wohlgemerkt, sondern einem, der alles, was sich ihm entgegenstellt, entweder zerquetscht oder mit Geisteskraft pulverisiert: Flaschen, einen Skorpion und irgendwann dann auch Menschen.

Exzentriker und Untote

Der Film mit dem bizarren Helden heißt Rubber, stammt von dem französischen Exzentriker Quentin Dupieux und steht für die offenere Ausrichtung des neuen Festivaldirektors Olivier Père, der die gängigen Hierarchien von populärem und künstlerischem Kino produktiv durcheinanderbringt. Auf der Piazza lief deshalb auch Rammbock, die freche Zombiefilm-Variation des Österreichers Marvin Kren, oder Cyrus, eine US-Komödie der Brüder Mark und Jay Duplass, die mit dem großartigen Charakterkopf John C. Reilly auch einen gutgelaunten Hollywood-Star auf das Schweizer Festival brachte.

Cyrus ist genau genommen keine Komödie, sondern ein Film über die Schwierigkeiten von Menschen, eine Nähe einzugehen, wenn sie dafür etwas anderes aufgeben müssen. Dabei beginnt alles recht vielversprechend: John (Reilly) begegnet auf einer Party Molly (Marisa Tomei), die beiden scheinen wie füreinander gemacht, bis sich herausstellt, dass es da noch einen Dritten gibt: Cyrus (Jonah Hill), Mollys Sohn, ein Riesenbaby, das mit 22 Jahren immer noch zu Hause lebt. Ihre Beziehung gleicht einer Festung der Innigkeit, hart an der Grenze zur Perversion. Cyrus wird sie mit allen Mitteln zu verteidigen wissen.

Für die Duplass-Brüder, die bisher kleine Independent-Filme gedreht haben, ist dies die erste größere Arbeit mit etablierten Stars. Ihre freie, auf Improvisation setzende Technik haben sie beibehalten. Dem Film verhilft dies zu einer emotionalen Direktheit, die kleinere (und auch gravierende) menschliche Unbeholfenheiten betont. Die zunehmend aggressiveren Auseinandersetzungen zwischen Cyrus und John entwickeln eine irrwitzige Dynamik, in der sich Komik, Entsetzen und peinliche Rührung nahtlos aneinanderreihen.

Um eine nicht ganz alltägliche Mutter-Sohn-Beziehung geht es auch in Benedek Fliegaufs Wettbewerbsbeitrag Womb, der ersten internationalen Produktion des Ungarn. Zu Beginn eine sanft pathetische Liebesgeschichte, zwischen Rebecca (Eva Green) und Tommy (Matt Smith), die sich seit Kindheitstagen kennen, nimmt der Film durch den Unfalltod des Mannes eine überraschende Wendung. Rebecca bringt Tommy mittels genetischer Reproduktion in die Welt zurück - sie zieht ihren Geliebten als eigenen Sohn groß, ohne sich der Verantwortung völlig bewusst zu sein, die aus diesem Akt noch erwachsen wird.

Klone und Sinnsucher

Womb ist ein Science-Fiction-Melo, das sein erzählerisches Potenzial - die unheimliche Qualität des Klons, das inzestuöse Verhältnis zwischen Mutter und Sohn/Geliebtem - mit einer zu gelackten Inszenierung übertüncht. Die menschenleere Uferlandschaft, die Fliegauf als pittoresken Handlungsort wählt, rückt den Film aus weltlichen Zusammenhängen; als intimes Kammerspiel, das sich auf die innersten Zwänge beschränkt, bleibt er indes zu sehr auf dekorative Oberflächenreize ausgerichtet.

Man kommt nicht umhin, Womb als eine Form von Koproduktionskino zu betrachten, in dem das Persönliche eines Autors in anderen Verbindlichkeiten verlorengeht; für Pia Marais' neuen Film Im Alter von Ellen gilt das zwar nicht, aber auch ihr gelingt es nur passagenweise, der Sinnsuche ihrer Heldin die notwendige Resonanz zu verleihen. Jeanne Balibar - die hier Deutsch spricht - ist Ellen, eine Stewardess, die von ihrem Freund (ungewohnt sanft: Georg Friedrich) verlassen wird und dadurch aus dem Tritt gerät.

Sie driftet durch anonyme Räume, hängt sich an Fremde an, taucht in Subkulturen wie einer Tierschützer-Gemeinschaft unter. Für Ellens zielloses Treiben, ihre Entrücktheit, findet Marais Bilder, die diesen Zustand schön unterstreichen; doch immer dann, wenn die Suchende verharrt, sich einer Gruppe, einem anderen Mann anvertraut, wirkt der Tonfall manieriert, so als würde hier jemand nur etwas behaupten. (Dominik Kamalzadeh aus Locarno, DER STANDARD/Printausgabe, 10.08.2010)