Zwei stille Außenseiter gegen den Rest der lauten Sippe: Oma Nusret (Tsilla Chelton) und Enkel Murat (Onur Ünsal) in "Pandoras Box".

Foto: Kairos

Wien - Eine steinalte Frau tritt auf einen Balkon. Sie ist ganz klein und krumm, aber ihre Augen sind wach, sie lächelt munter. Dann ändert sich von einem Moment zum anderen ihr Ausdruck, ihre Miene wird leer. Die Frau, die sich eigenartig berührt und unsicher ins Haus zurückzieht, scheint jetzt eine ganz andere zu sein.

Schon mit dieser unvermittelten Wandlung, die den Film eröffnet, hat die Darstellerin der Alten nachdrücklich auf ihr nuanciertes schauspielerisches Vermögen aufmerksam gemacht: Tsilla Chelton, Jahrgang 1918, ist eigentlich eine renommierte französische Bühnenschauspielerin. Vor zwanzig Jahren hat sie ausgerechnet mit ihrer Verkörperung der Tante Danielle einen ersten großen Kinoerfolg gelandet. Jetzt prägt sich ein, wie sie in der Rolle der türkischen Bäuerin Nusret vom Sofa aus halb unwirsch, halb verwirrt das Nachmittagsprogramm verfolgt. Wie sie mit ihrem dauerbekifften Enkel zu kleinen Exkursionen am Hafen aufbricht oder mitten in einer Horde Straßenkinder das Kommando übernimmt.

Mit der zweiten Szene hat der Film nämlich den Schauplatz gewechselt - aus dem Bergdorf nach Istanbul, dort wird man mit weiteren Protagonisten bekanntgemacht. Es handelt sich um Nusrets Enkel Murat und ihre erwachsenen Kinder. Letztere wurden über das Verschwinden ihrer Mutter in Kenntnis gesetzt. Einige Zeit später ist Nusret dann bei ihrer Ältesten im Hochhaus-Apartment einquartiert. Eine Situation, mit der niemand richtig glücklich ist. Aber bei Nusret wurde Alzheimer festgestellt - allein in ihrem Haus kann sie nicht bleiben.

Rund um diese unberechenbare Protagonistin wird der Film die Familienverhältnisse neu ordnen. Jedes Kind kriegt sozusagen seinen Merksatz mit auf den Weg, das ist ein bisschen öd. Aber von solchen vordergründigen Zuspitzungen abgesehen gelingen Pandoras Box vor allem viele ruhig und beiläufig inszenierte, wortlose Momente - egal, ob es um labile Befindlichkeiten geht oder auch bloß um alltägliche Beobachtungen, etwa vom Wachwerden (die Leute schlafen hier richtig tief und sind ordentlich langsam, wenn dann draußen einer klingelt).

Pandoras Box / Pandora'nin kutusu ist der vierte Spielfilm der türkischen Regisseurin Yesim Ustaoglu. Mit ihrem zweiten, Reise zur Sonne, wurde sie vor rund zehn Jahren bekannt. Pandoras Box, der 2008 uraufgeführt wurde, war unter den türkischen Autorenfilmen dieses Jahrgangs eine Ausnahme: Andere international ebenfalls prämierte Arbeiten wie Özcan Alpers Sonbahar/Herbst, Seyfi Teomans Tatil Kitabi / Summer Book oder Mahmut Fazil Coskuns Uzak ihtimal / Wrong Rosary kreisten (teils quälend) um männliche Identitätsfindung.

Pandoras Box hingegen rückt neben Matriarchin Nusret auch die unterschiedlichen Lebensentwürfe von deren beiden Töchtern in den Mittelpunkt und entwickelt letztlich aus dem Porträt eines brüchigen Familienverbands eine weiter reichende, unsentimentale Geschichte vom Abschiednehmen. (Isabella Reicher DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.8.2010)