Kunst und Militärgeschichte in eigentümlicher Union. Sewastopol versucht als Kulturstadt wahrgenommen zu werden.

Foto: Standard/Höller

Etwa martialisch-maritime Kunst im ehemaligen Militärsperrgebiet "Balaklawa Odyssee".

Kein Ort in der ehemaligen Sowjetunion ist derart von Kriegen geprägt wie Sewastopol. Die ganze Stadt wirkt wie ein einschlägiges Monument. Gleich am Bahnhof erinnert eine Lok mit der Aufschrift "Tod dem Faschismus" an den Zweiten Weltkrieg. Einen Hügel höher befindet sich das historische Riesenrundgemälde, das die Belagerung der Stadt durch Engländer und Franzosen im Krimkrieg von 1854/55 darstellt. Und in Wurfweite liegt die russische Schwarzmeerkriegsflotte.

Mit zeitgenössischer Kunst hatte Sewastopol bislang wenig am Hut. Mit einem internationalen Festival könnte sich das nun ändern. "Balaklawa Odyssee entstand seinerzeit aus dem Wunsch, sich den U-Boot-Bunker künstlerisch anzueignen", sagt Festival- Mitinitiator Roman Marcholia. Ende der 1950er hatte KP-Chef Nikita Chruschtschow in der pittoresken Bucht von Balaklawa – sie wird bereits in Homers Odyssee erwähnt – eine streng geheime Basis anlegen lassen. Geschützt vor dem atomaren Erstschlag, wurde hier die U-Boot-Flotte gewartet, mittlerweile fungieren die gigantischen Schächte als Museum des Kalten Kriegs. Und seit einer ersten Ausgabe vom Festival im Jahr 2006 als temporärer Kunstort.

Die zweite Ausgabe des Festivals eröffnete vergangene Woche in Balaklawa. Ein wenig geplagt von technischen Problemen zeigte eine Gruppe der Kunstfakultät der Pariser Sorbonne im U-Boot-Bunker eine Unterwasser- und Musikperformance. Danach präsentierte der Moskauer Konzeptkünstler Leonid Tischkow, der sich in seinem Oeuvre seit 25 Jahren mit Tauchern beschäftigt, ein faszinierendes Denkmalprojekt: Tischkow griff die Idee der weltberühmten sowjetischen Bildhauerin Vera Muchina (1899-1953) auf, die 1937 ein 40 Meter hohes Taucherdenkmal just für Balaklawa vorgeschlagen hatte. Dieses sollte gleichzeitig als Leuchtturm funktionieren.

Zentraler Ausstellungsort des Festivals war das Fort Michael. Diese Seefestung aus dem 19. Jahrhundert war bis vor zwei Monaten noch militärisches Sperrgebiet. Der Kiewer Geschäftsmann und Militaria-Sammler Aleksej Scheremetjew hatte es jedoch geschafft, die seit März 2010 amtierende neue Regierung der Ukraine zu überzeugen, ihm das Areal zur Verfügung zu stellen. Auf eigene Kosten und in rekordverdächtigen hundert Tagen adaptierte Scheremetjew stilvoll die historischen Gemäuer, entfernte 7500 Tonnen Abfall und eröffnete Anfang Juli mit seiner eigenen Sammlung das größte militärhistorische Museum der Ukraine.

Während der Innenhof für Performances diente – der Wiener Jan Machacek gab hier seine körperkunstorientierte Videoperformance Erase Remake – standen zwei Flügel des Forts für die zentrale Ausstellung zur Verfügung.

Neben einem kleineren Off-Bereich gaben zwei Kunstinstitutionen Osteuropas den Ton an: Einerseits präsentierte das Staatliche Zentrum für zeitgenössische Kunst aus Moskau lyrische Kunst zu maritimen Themen. Anderseits setzte das Kiewer Pinchuk Art Centre auf eher martialische Arbeiten ukrainischer Kunststars. Etwa eine Serie von Arsen Sawadow, der Landpartienidyllen mit Atompilzen kontrastiert. Das bisweilen noch überschaubare lokale Kunstpublikum nahm das Angebot dankbar an.

Lokalpolitiker wünschen sich indes einen künftigen Status als "Kulturhauptstadt", Festivals wie Balaklawa Odyssee seien ein erster Schritt. Das Militärische wird aber bis auf weiteres präsent bleiben. Der Vertrag mit der russischen Flotte wurde kürzlich vom ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch bis 2042 verlängert. Und bei Veranstaltungen wie der Balaklawa Odyssee schwingt die aktuelle geopolitische Intrige mit: Bleibt die russischsprachige Krim ein Teil der Ukraine, oder könnte sie unter Janukowitsch langsam wieder unter russische Kontrolle geraten?

Weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit sind in den letzten drei Monaten Militärattachées und Spitzendiplomaten nach Sewastopol gereist, ein hochrangiger Stadtpolitiker spricht von mehr als 50 offiziellen Besuchen. Auch hat der westlich orientierte Schriftsteller Jurij Andruchowytsch kürzlich für landesweite Aufregung gesorgt, indem er laut über eine mögliche Rückgabe der Krim an Russland nachdachte. Gleichzeitig will die Europäische Kommission Millionenbeiträge in die Entwicklung der Halbinsel stecken. Auch Russland kündigt Investitionen an.

All das gibt einen guten Nährboden für künstlerische Großveranstaltungen. (Herwig G. Höller, DER STANDARD – Printausgabe, 17. August 2010)