Vielschichtige Kunstszene: Unsere Abbildung zeigt das Gemälde "Landschaft" des Malers Günter Waldorf, der Mitbegründer des Forum Stadtpark und Mitherausgeber der "manuskripte" ist.

Foto: Artothek des Bundes, BKA (Detail)

Für Yoko Tawada, eine aus Tokyo gebürtige, in Hamburg lebende Schriftstellerin, die in den 90-er Jahren enge Bande zu den Autoren des Forum Stadtpark knüpfte, ist Graz "kein Thema für einen Text, sondern ein Tintenfass voll Tinte". Sie war, wie viele andere auch, von Alfred Kolleritsch, dem Herausgeber der Zeitschrift manuskripte, und dessen Kollegen Klaus Hoffer gebeten worden, sich an diese Stadt zu erinnern: für die Anthologie Graz von außen.

Ein Tintenfass voll Tinte, fürwahr. Und ganz besonders im Kulturhauptstadtjahr: Nie zuvor dürften derart viele Publikationen, darunter natürlich auch der jüngste Brenner-Krimi von Wolf Haas, erschienen sein, die sich mit Graz beschäftigen, in denen Graz als Schauplatz dient - weniger für Begebenheiten in der Jetztzeit, mehr für Erinnerungen. Und Graz von außen ist voll mit (zum Teil entbehrlichen) Erinnerungen an eine Zeit, da Graz als heimliche Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur gehandelt wurde. Den wohl prägnantesten Einblick in diese goldenen Jahre gewährt der Germanist Jörg Drews mit seinem Grazer Alphabet: Das Theatercafé, die Likörstube Haring, die manuskripte, das Forum, die Besäufnisse der Autoren, die Literatursymposien, einfach alles, was Graz zum Mythos machte, wird in Schnurren abgehandelt.

Ja, das Forum Stadtpark: Die Gründung des "vielgestaltigen Phänomens", wie es Christine Rigler ausdrückt, geht zurück auf eine Initiative der Jungen Gruppe um den Maler Günter Waldorf, die 1958 das Ansuchen vorbrachte, das Stadtpark-Café, nur mehr als Abstellraum verwendet, für Ausstellungen und Veranstaltungen nutzen zu dürfen. Rigler, die drei Jahre lang das Archiv des Forum aufarbeitete, liefert einen minutiösen Abriss: von der konstituierenden Vereinssitzung über die Eröffnung 1960 bis in die Gegenwart. Sie berichtet betont sachlich über das Entstehen der manuskripte, über Konzepte und Konflikte, und sie analysiert die Neustrukturierung, die unter Walter Grond, der Kolleritsch 1995 handstreichartig als Vorsitzender ablöste, in Angriff genommen wurde. Für viele war dieser Generationenwechsel das Ende des Forums, auch wenn das Haus, bis zur Unkenntlichkeit umgebaut, weiter existiert: Die Zeitschriften manuskripte und Camera Austria gingen eigene Wege, das Theater spaltete sich ab.

Dieser Tage Mitglied des Forum zu sein, bedeutet nichts mehr. In den manuskripten veröffentlicht zu werden, hingegen weiterhin sehr viel. Und so mancher ist mächtig stolz darauf, wenn Kolleritsch ihn vorstellt. Einer von diesen, denen einst "künftiger Weltruhm" garantiert schien, ist Günter Eichberger. Aller Laster Anfang, sein jüngstes Buch, besteht aus Kolumnen, die er als "Stadtflaneur" für die Kleine Zeitung schrieb. Darauf hinzuweisen, kam dem Verlag nicht in den Sinn. Der Leser stolpert mit Eichberger durch Graz, ohne sich recht auszukennen. Die Stadt von innen: Sicher, viele der mitunter vujicaesken Schilderungen des Müßiggangs und der beißenden Kommentare zur Kulturpolitik sind amüsant wie geistreich. Doch manch längst vergessene Ansage oder Begebenheit, auf die sich Eichberger bezieht, hätte nach einer erklärenden Fußnote verlangt.

Die Streifzüge durch Graz führen natürlich auch in die Haring, die legendäre Likörstube. Sie ist der zentrale Schauplatz von Murphys Gesetz: Manfred Rumpl beschreibt beziehungsweise karikiert in seinem leicht dechiffrierbaren Schlüsselroman die Grazer Kunstszene. Er packt alles, was sich in den letzten zwei Jahrzehnten zutrug (Nitsch und die Fuhre Mist 1981, Bill Fontana 1987, Hans Haacke 1988) in einen Herbst und Frühling. Andererseits hört der Held bereits 1992 die Musik der Gruppe EELS, die erst 1995 gegründet wurde: Anatol Hofer zieht in die Stadt, um Literat zu werden, macht Bekanntschaft mit Künstlern - und scheitert tragisch. Wolfgang Bauer ist Rudolf Brauer, und Othmar Krenn, ein 1998 ums Leben gekommener Aktionist, ist Otto Kren. Mit sehr viel Liebe und Respekt schildert Rumpl den Poeten Herwig von Kreutzbruck, eine verkrachte Existenz, dem er als Herwig von Kreuzbruch ein Denkmal setzt: Dieses schillernde Original dominiert den Roman aufgrund unzähliger Anekdoten, gibt ihm den Titel und ist die tragende Gestalt.

Aber dem Autor geht es - wie vor einigen Jahren Walter Grond (Der Soldat und das Schöne) - um etwas anderes: um eine Abrechnung mit Kolleritsch, der "wie eine Spinne an allen Stellen im Literaturbetriebsnetz" sitze. Wenn Rumpl diesen "Professor Günstler" charakterisiert, führt der Hass die Feder. Und in seiner Topographie von Graz, die exakt beschrieben wird, fehlt nur ein Ort: das Forum Stadtpark. Eigentlich müßig, im Index von Riglers Buch nachzublättern: Der Name Rumpl taucht nicht auf. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.4.2003)