Wahrheit, Lüge und eine Liebesgeschichte am Rande des Abgrunds: Michael Köhlmeier.

Foto: Standard/Heribert Corn

Erzählen ist ein Spiel mit der Wahrheit.

Ein Schriftsteller will ein Buch über einen jungen Mörder schreiben. Da schildert ihm die vierzehnjährige Tochter seiner Nachbarn hilfesuchend ihre große Liebe zu einem notorischen Lügner und ihre Krisen. So finden sich Schriftsteller und Leser in diese Geschichte hineingezogen, deren verschiedene Seiten und Hintergründe von Haupt- wie Nebenfiguren mitgeteilt werden - "erzählte mir" ist ein leitmotivischer Ausdruck. Daraus ergibt sich ein Einblick, der aus den Teilen ein Mosaik bildet, wie es metaphorisch auf der ersten Seite steht: Aus seinem Arbeitszimmer, in dem das Buch über den jungen Mörder im Reich der Möglichkeit bleibt, sieht der Schriftsteller auf den Balkon der Nachbarn hinunter, auf ein "Tischchen, dessen Platte den Venuskopf von Botticelli, zusammengefügt aus Mosaiksteinchen, zeigte" .

Michael Köhlmeier schafft es, daraus einen packenden Roman zu formen. Psychische und zwischenmenschliche Zustände führt er so intensiv vor Augen, als würden eine Seele und eine Beziehung seziert. Zugleich jedoch bleibt mit dem Erzählmotiv eine Ungewissheit, was tatsächlich und wahrhaftig vor sich gegangen sei.

In seinem großen, 2007 vorgelegten Roman Abendland, der zahlreiche Geschehnisse und Schauplätze zu einem tiefgreifenden Panorama des 20. Jahrhunderts und menschlicher Existenz fügt, erzählt ein 95-Jähriger dem Schriftsteller Sebastian Lukasser sein Leben. Dazu spannt Michael Köhlmeier starke narrative Bögen, die sowohl die Verbindung der Geschichten tragen als auch Reflexionen über den Erzählvorgang selbst.

Seine Autorfigur, die scheinbar Disparates ordnet, tritt nun wieder auf, diesmal in konzentrierter Handlung. Seinen Schilderungen der Jugendlichen verleiht Köhlmeier einen ebenso plausiblen, starken Ton wie den Dialogen mit den Erwachsenen, die inneren Stimmen und Stimmungen einer Vierzehnjährigen gibt er in all ihren Zögerlichkeiten, Ungewissheiten, Sehnsüchten und Bestimmtheiten wieder.

"Ich bin der, dem jeder glaubt, auch wenn er lügt" , denkt Sebastian Lukasser in Köhlmeiers neuem Roman Madalyn. Er betrachte diese Gabe als "charakterlichen Kollateralschaden" seines Berufs.

Als Madalyn mit fünf Rad fahren lernte, hat er ihr das Leben gerettet. Nun steht die Vierzehnjährige mit einem literarischen Vorwand vor seiner Tür. Er hat sie eine Zeitlang nicht gesehen, sie aber scheint ihn immer noch als ihren Schutzengel zu verstehen. Sie will mit dem bekannten Schriftsteller ein Gespräch für den Literaturunterricht führen - bis sie damit rausrückt, dass er mit ihren Eltern, die sie zum Anspeiben nicht leiden könne, reden möge, sie doch mit der Deutschlehrerin und der höheren Klasse nach Weimar fahren zu lassen.

"Willst du mir erzählen?" , fragt er, obwohl ihn ein Instinkt warnt: "Halt dich da raus!" Erzählen aber heißt Anteilnahme, und so hört er eine Geschichte und wird Teil dieser Geschichte. Das Zuhören sei sein Beruf, rechtfertigt er sich: "Wie viele Bücher würden wir verabscheuen, wenn wir die Geschichte ihrer Entstehung wüssten" - und liefert in Madalyn zugleich eine Entstehungsgeschichte mit.

Madalyn hat sich in Moritz verliebt, der auch nach Weimar mitfahren soll. Diese für die Fantasiebegabte immens scheinende Liebe beginnt im poetischen Wort. Die Deutschlehrerin liest ein Gedicht von Moritz vor, das Madalyn so fasziniert, dass sie den jungen Autor, den sie nie gesehen zu haben meint, in der Pause findet, ihrem Instinkt und ihren Vorstellungen folgend. Moritz hatte schon mit der Polizei zu tun, er zieht Madalyn in sein Spiel mit Wahrheit und Lüge, in eine komplizierte Liebesgeschichte bis an den Rand des Abgrunds.

Im Gegensatz zum Schriftsteller Sebastian Lukasser erklärt Moritz, dass ihm sowieso keiner glaube. Die miese Familiensituation, in der er lebt, geht - wie er einmal schildert, also seinen Worten nach, von denen man nie weiß, ob sie stimmen - auf ein Lügenkarussell von ihm zurück. Nur Madalyn sage er die Wahrheit, behauptet er ihr gegenüber und vertraut ihr an, dass das Gedicht gar nicht von ihm sei. Die Wortgrundlage der Liebesfaszination steht auf falschem Boden.

So viele Darstellungen der Figuren sind Verschleifungen oder Verdrehungen einer Wahrheit, so viele Verhalten erweisen sich als ernste Spiele und beruhen auf Fantasiegebilden. Madalyn, die gut Stimmen imitiert, malt sich aus, in welche Länder sie und Moritz abhauen, wie sie dort leben könnten; in Wien üben sie sich in Rollen, geben sich in einem Möbelgeschäft als berühmte Nachwuchsmusiker aus. Wenn Details plausibel vorgebracht sind, wird ein Lügengebäude leicht geglaubt, lautet ein Grundsatz ihrer Technik. Dies kann auch für eine literarische Erzählung gelten. Von Anfang an bietet Köhlmeier kleine Elemente einer Wiener Lebensrealität wie die Buchhändlerin Anna Jeller in der Margaretenstraße, mit den ersten Sätzen situiert er Zeit und Ort, das Frühjahr 09 und die Heumühlgasse. Und doch: Wer weiß, ob's wahr ist? Jedenfalls stimmt es in dem stimmigen Roman. (Klaus Zeyringer, ALBUM/DER STANDARD - Printausgabe, 21./22. August 2010)