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Das Zentrum für Gastrosophie will die Tischkultur analysieren und die Freude am Essen in die Überflussgesellschaft zurückbringen.

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Dabei wird Slowfood genauso zum Thema wie die Wurstsemmel. Motto: Der Mensch ist, was und wie er isst.

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Skandale in der Lebensmittelbranche, eine global agierende Ernährungsindustrie, zunehmende Fettleibigkeit und Essstörungen, Unsicherheit bei vielen Konsumenten: Diese Phänomene brachten den Wissenschafter Lothar Kolmer und den Unternehmer Marcus Winkler vor vier Jahren bei einem Restaurantbesuch ins Gespräch - und auf die Idee, die allgegenwärtigen Themen Essen und Ernährung wissenschaftlich zu hinterfragen.

Nach zwei Jahren Vorarbeit entstand daraus Anfang 2009 das "Interdisziplinäre Zentrum für Gastrosophie", das an der Universität Salzburg angesiedelt ist. Im Herbst des vergangenen Jahres startete dann erstmals der Universitätslehrgang "Gastrosophische Wissenschaften", wo Gastrosophie, also die Lehre von der Weisheit des Essens bzw. das Wissen um die richtige Ernährung studiert werden kann.

"Die Nachfrage war größer als wir gedacht haben", zieht Lothar Kolmer, Historiker und Lehrgangsleiter, eine erste Bilanz. Nach insgesamt fünf Semestern werden die ersten 22 Teilnehmer mit dem "Master of Gastrosophy" abschließen, den es nirgendwo sonst in Europa gibt.

"Es geht um eine ganzheitliche Betrachtung des Umgangs mit Lebensmitteln, deren Verarbeitungen und Auswirkungen auf die Gesundheit," umreißt Kolmer die inhaltliche Ausrichtung. "Der Mensch ist, was er isst und wie er isst", verweist der Mittelalterspezialist, der über die Anfänge der Inquisition in Südfrankreich promovierte, auf die philosophisch-soziologische Komponente des Essens. Dementsprechend will das Zentrum einen Bogen von der Kulturgeschichte und Soziologie, von Ernährungsgewohnheiten über Warenkunde und Lebensmitteltechnologie bis hin zu Marketing, Food-Design und medizinischen Fragen spannen. In Zusammenarbeit mit der Universität Salzburg und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität sollen die geisteswissenschaftlichen Ansätze mit naturwissenschaftlichen verknüpft werden. Natürlich wird auch experimentiert und gekocht - zum Beispiel jahrhundertealte, längst vergessene Rezepturen. Oder es werden die Wurzeln der Salzburger Nockerln und die Geschichte der Wurstsemmel ergründet, der Geschmack geschult und bei Exkursionen Biobauern auf die Finger geschaut, schildert Kolmer.

Dazu gibt es aber auch Tischkultur, "Essethik" und die rituelle Ordnung von Festen. "Wir versuchen, das Missionarische wegzulassen und bekennen uns zu einem rationalen Hedonismus."

Was genau das Berufsbild des Gastrosophen ausmacht, ist freilich noch nicht restlos geklärt: "Das ist ein ständiger Diskussionsprozess", bekennt der Gastrosophieexperte. "Wir erwarten durch diese Herangehensweise neue Inputs für die Unternehmen - in allen Aspekten, vom Anbau über die Produktion bis zu den Konsumenten und ihren Einstellungen", sagt Marcus Winkler, Leiter des Salzburger Gewürzherstellers Wiberg und umtriebiger Obmann des Fördervereins Forum Gastrosophie, der Kooperationspartner aus der Wirtschaft versammelt.

Wie speist der Geist

Zielgruppe des Lehrgangs, der im Oktober in die zweite Runde geht, sind Produktentwickler aus der Lebensmittelbranche, Gastronomen genauso wie Mitarbeiter in Gesundheits- und Tourismusberufen oder auch Lehrer. Die Wirtschaftspartner und das Land Salzburg sind auch Financiers des Gastrosophenzentrums, das derzeit einen Kongress zu Regionalität in der Kulinarik vorbereitet, der im November stattfinden wird.

Für das nächste Jahr ist das Projekt "Wie speist der Geist" geplant, wo man sich den Themen Brainfood und spezieller Ernährung für Kindergärten und Altersheime widmen wird. Darüber hinaus befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der Vier-Elemente-Küche, die in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rezeptsammlungen Europas gepflegt wurde, heutzutage aber von der Bildfläche verschwunden ist. In Kooperation mit gastrosophischen Instituten anderer Länder wird außerdem das kulinarische Erbe Europas kartiert. Das Zentrum für Gastrosophie will letztlich dazu beitragen, die Freude am Speisen und guter Ernährung wieder tiefer in der Überflussgesellschaft zu verankern. Die Kosten des Lehrgangs: 8900 Euro. (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Printausgabe, 25.08.2010)