Roberto Bolaño, Autor des "Lumpenromans"

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Wien - Bevor der 2003 verstorbene Chilene Roberto Bolaño sein letztes Werk in Angriff nahm, den 2009 in deutscher Fassung veröffentlichten apokalyptischen Romanziegel "2666", hatte er sich noch an einem für seine Verhältnisse minimalistischen Stoff versucht. Eine schnell erzählte Geschichte, die nun, aufgebläht zum "Lumpenroman", auch auf Deutsch vorliegt.

Man kann diese vom Verlag als "melancholische Satire auf unsere von Trash und Gewalt dominierte Kultur" beworbene Geschichte vom Purgatorium einer jungen Frau, an deren Ende so etwas Ähnliches wie Erlösung steht, mit einigem guten Willen zwar auch als überzeichneten Grabgesang auf unsere Zivilisation lesen, im Wesentlichen diente diese hundertseitige Fingerübung eines Autors, der sich lieber am totalen Roman, an der jedes Maß und jede Normalität sprengenden apokalyptischen Form zerreiben wollte, allerdings nur als emotionslos erzählte Vorstufe für "2666".

Wo Bolaño in "2666" auf über tausend Seiten den Colonel Kurtz in uns allen sucht und dafür das Tor zur Hölle öffnet, in der uns Serienmorde, Snuff-Videos und andere Endzeitszenarien erwarten, beschränkt sich der Autor im "Lumpenroman" auf sein wesentliches Thema. Es ist die Gewalt, die unsere Gesellschaft als dunkles Herz am Laufen hält. Und sie ist es auch, die uns stumpf und wunschlos unglücklich macht. Sie verdammt uns zum Überleben, nicht zum Leben.

Im "Lumpenroman" wird man zunächst Zeuge eines Traumas. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern versucht die in Rom lebende Protagonistin Bianca, gemeinsam mit ihrem Bruder ziel- und ambitionslos durch den Tag treibend, vor allem eines, "die wenigen Dinge zu vergessen, die ich wusste". Der tiefe Schmerz, die Leere werden mit Quizshows und Pornos bekämpft. Gefühle werden mit Trash abgetötet. Das Geschwisterpaar schlägt sich mit niederen Arbeiten in Friseursalons und Fitnessstudios durch. Irgendwann sind auch diese Jobs weg.

"Das Glück wenden, eine Redensart, die für mich keinen Sinn ergab, so sehr ich mir auch darüber den Kopf zerbrach, denn das Glück lässt sich nicht wenden, entweder ist es da oder es ist nicht da, und wenn es da ist, gibt es keinen Weg, es zu wenden, und wenn es nicht da ist, geht es uns wie Vögeln in einem Sandsturm, wir wissen es nur nicht."

Biancas Bruder und zwei Freunde benutzen die junge Frau schließlich als Lockvogel. Indem sie sich in der Villa eines ehemaligen italienischen Sandalenfilmhelden prostituiert, soll sie einen angeblich im Haus versteckten Safe auskundschaften. Doch das vermeintliche Raubopfer entpuppt sich als brutaler Täter. Bianca steigt hinab in die Hölle. Ganz unten angekommen, sieht sie jedoch eine Möglichkeit, wieder zurück ans Tageslicht zu kommen.

Es wird im "Lumpenroman" tüchtig viel mit Lichtmetaphorik gearbeitet. Egal, ob dies nun satirisch gemeint ist, die Welt von Roberto Bolaño bleibt eine dunkle, strenge Kammer. (Christian Schachinger / DER STANDARD, Printausgabe, 26.8.2010)