Bernhard Fleischmann eröffnete den 13. Gürtel-Nightwalk vor drohender Wolkenkulisse. Aber er blieb trocken.

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Wien - Der Wind pfeift. Die Mundwinkel vieler Besucher sind auf Hausmeister gestellt, der Blick gen Himmel gerichtet. Bis zum Horizont türmen sich dunkle Wolken. Skepsis. In diesem Szenario eröffnet der Wiener Elektronikmusiker Bernhard Fleischmann am frühen Samstagabend den Gürtel-Nightwalk auf dem Dach der Stadtbücherei. Während auf Straßenniveau zahllose Rinnsale das bodennahe Odeur rund um die Bücherei erklären, dröhnen oben Beats, charmieren Melodien. Kurz darauf sitzt Fleischmann bei den famosen Villa Log auch noch am Schlagzeug. Sie sind der zweite Act hoch über dem Gürtel.

Zum 13. Mal ging diese von Wiener SPÖ-Gemeinderäten ins Leben gerufene Idee über diverse Bühnen. Seit in den mittleren 1990ern mit EU-Fördergeldern der Verslumung mit der Ansiedlung von Jugend- und Szenelokalen begegnet wurde, hat sich diese jährlich organisierte Veranstaltungsmeile zwischen Urban-Loritz-Platz und Ottakringer Straße zu einem Stadtleben- und Kulturfixpunkt des Sommers gemausert. Laut Veranstaltern nutzten heuer trotz wenig einladender Witterung rund 23. 000 Menschen das gebotene Programm: Konzerte, Lesungen, DJ-Lines und Filmvorführungen.

Runter vom Bücherei-Dach, begegnet einem wieder eine andere Gürtelrealität. Obdachlose liegen zwischen Kopp- und Thaliastraße hinter den Büschen. Auch da - Rinnsale, Gestank. Auf den sechs bis sieben Spuren des Gürtels liefern sich Befallene des hier epidemisch auftretenden Morbus Schwanzus kurzus kompensatorische Autorennen. Der Polizei ist das - wie sonst auch - egal.

Nächste Station: Chelsea, der erste Club, der im Juni 1995 in drei renovierten Stadtbahnbögen die Renaissance des davor vom Rotlichtmilieu dominierten Gürtels eingeläutet hat. Irgendwo auf der Welt wird immer Fußball gespielt, und das Chelsea überträgt dieses Spiel. Auch an diesem Abend. Draußen tritt derweil Der Nino aus Wien auf. Schräge Popmusik, irrwitziges Liedermachertum. Der Sound ist mäßig, dem Publikum ist's egal. Am Radweg des Außengürtels geht jetzt nichts mehr, doch an der Innenseite sind viele Biertische verwaist. Erst auf Höhe des Rhiz ändert sich das.

Dort tritt gerade BulBul auf, ein Trio, das Heavyrock mit rarer Leichtigkeit und Schmäh spielt. Das euphorisierte Publikum steht vor der Bühne und dahinter, von wo aus man Didi Kern beim Wüten am Schlagzeug aus nächster Nähe zuschauen kann. Cool. Backstage für alle.

Unterschwellige Politik

Einige junge Menschen in parteiroten Jacken verteilen in der Nähe Gürtel-Nightwalk-Programme. Ein paar Stadtregierende mischen sich unters Publikum. Man sieht Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny im Rhiz, anderswo schlendern Umweltstadträtin Ulli Sima, Bildungsstadtrat Christian Oxonitsch oder Planungsstadtrat Rudolf Schicker zwischen den Bühnen herum. Fotografen dokumentieren die Volksnähe.

Auch die Nebenschauplätze des Nightwalk profitieren. Sämtliche Würstel- und Dönerstände im bespielten Gebiet haben aufgerüstet. Biersteigen türmen sich, wo sonst ein Dönerspieß hängt, drehen sich an diesem Abend zwei Fleischkegel. Der Publikumszuspruch ist rege, das Bier ist hier billiger als in den Lokalen. Beim Verein für österreichisch-türkische Freundschaft geht man angesichts der Besucherflaute in die Offensive. Jemand malt ein Schild: "Bier 1 €."

Staus und Jazzrock

Neben dem Vereinslokal läuft unter einer Stadtbahnbrücke ein Nick-Cave-Konzertvideo. Auch hier pfeift der Wind, und der Verkehr ist lauter als die Übertragung. Ein paar verloren wirkende Gäste beraten sich in den aufgestellten Sitzreihen. Nick Cave - so viel ist sicher - bekommt eine Glatze.

Vor dem nahen B72 steht eine riesige Menschentraube. Hier wird gerade für das nächste Konzert umgebaut. Es staut sich nicht nur am Radweg, sondern auch vor den Mobilklos. Bis um 22 Uhr darf am Gürtel "open air" gespielt werden, später nur noch in den Clubs. In diesen ist es dann bald voll. Im Werk, wo die Band M185 auftritt, kommt man nicht mehr in den Saal, selbst im Weinhaus Sittl gibt es keinen Platz. Im Rhiz verlegen DJs Jazzrock, für Mitternacht ist noch eine Überraschungsshow angekündigt. Hauptsache das Wetter hält, sonst wird's ganz ungemütlich. Vor einem Puff auf der anderen Straßenseite steht eine Sexarbeiterin. Ob es zwischen dem Gürtel-Nightwalk und dem Rotlichtgeschäft Synergieeffekte gibt, wird nicht erkundet. (Karl Fluch, DER STANDARD - Printausgabe, 30. August 2010)