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"Und ich habe mich geniert", sagt Herr M. über seine halbjüdische Familie. Erzählungen wie seine eröffnen einen persönlichen Zugang zur Zeitgeschichte.

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Um diese wertvollen Dokumente der Oral History der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben Salzburger Historiker mit der Österreichischen Mediathek ein Archivierungsprojekt gestartet

Herr M. war zwölf Jahre alt, als ihm seine Mutter 1938 auf einer Urlaubsreise eröffnete, dass sie Jüdin und er selbst somit Halbjude sei: "Also ich weiß nicht, ich war ziemlich vor den Kopf geschlagen", erinnert sich Herr M. in einem Gespräch mit dem Historiker Albert Lichtblau Mitte der 1990er- Jahre. "Weil, ich muss leider sagen, irgendwie hätte mich das vielleicht angezogen, die Hitler-Jugend. (...) Bis dahin war ich stolz, Deutscher zu sein. Das hat mir mein Vater eingebläut. (...) Jetzt bist du auf einmal Halbjude. ... Und ich habe mich geniert."

M.s Vater war nicht jüdisch und stand dem nationalsozialistischen Gedankengut nahe: "Mein Vater war halt ein Vereinsmeier. Wo immer war er gerne dabei, ob es jetzt eine Studentenschaft gewesen wäre oder Kirche oder so was. (...) So hat er uns also richtig auf den Führer zugeführt, und wir wussten nicht, dass das (Anm.: die Verwandten mütterlicherseits) Juden waren. Selbst wenn wir da drinnen waren (Anm.: im 2. Wiener Bezirk – einem typischen "Judenbezirk", wo die Großmutter wohnte), wir haben wohl gesehen, da laufen welche mit Kaftan herum und mit Bärten, aber wir haben uns nichts gedacht. Die waren uns sehr sympathisch. (...) Meine Mutter immer stiller, immer stiller ..."

Eine verquere Familiengeschichte, die gemeinsam mit den Erzählungen vieler anderer Zeitzeugen einen äußerst facettenreichen und persönlichen Blick hinter die historischen Daten und Fakten der NS-Zeit erlaubt und damit einen sehr emotionalen Zugang zur Zeitgeschichte öffnet.

Oral History, also die Befragung "ganz normaler" Menschen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während einer bestimmten historischen Epoche, hat sich seit den 70er-Jahren nicht nur als wissenschaftliche Methode etabliert, sondern auch als höchst wirksamer und nicht nur von Lehrern und Schülern gefragter Türöffner zur jüngeren Geschichte.

1200 Stunden Zeitgeschichte

An die 200 Interviews hat Albert Lichtblau, Leiter des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte an der Universität Salzburg, bisher mit österreichischen Opfern des Nationalsozialismus gemacht. Ein historischer Schatz, der zwar für wissenschaftliche Publikationen genutzt wurde, anderen Forschern und Interessierten aber nicht zugänglich war.

"Pure Verschwendung", befand der Historiker und hat in Kooperation mit der Österreichischen Mediathek ein Archivierungsprojekt ins Leben gerufen. "Dabei werden die von rund 30 Interviewern im Lauf eines Vierteljahrhunderts erstellten Aufzeichnungen archiviert und digitalisiert", erklärt Projektmitarbeiter Johannes Hofinger.

Das sind 620 vor allem auf Kassetten aufgenommene Interviews mit einer Gesamtwiedergabezeit von an die 1200 Stunden. Bereits jetzt können sich Interessierte diese Berichte in den Benutzerräumen der Österreichischen Mediathek anhören. Ende 2011 soll die Digitalisierung schließlich so weit fortgeschritten sein, dass der Großteil der Interviews über eine Internet-Plattform der Mediathek online abrufbar sein wird.

Auch wenn die Aufnahmequalität der einzelnen Interviews sehr unterschiedlich ist, soll bei der Archivierung nichts verändert werden. "Das Material wird dezidiert in jenem Zustand belassen, in dem es in die Mediathek kommt", betont Hofinger. "Selbst unerwünschte Hintergrundgeräusche oder lange Pausen etc., die bei einer Verwendung etwa im Radio stören, werden nicht eliminiert. Die Mediathek liefert das Original – diverse Bearbeitungen sind dann eine Aufgabe der Postproduktion." Da es in Österreich bislang kein zentrales Interview-Archiv gibt, ist dieses von mehreren nationalen und internationalen Institutionen finanzierte Projekt der erste Schritt zu einer solchen längst überfälligen Einrichtung.

Das einzige vor den 1980er-Jahren aufgenommene Tondokument der Lichtblau-Sammlung ist übrigens das 1963 geführte Interview mit Käthe Sporer. Die 1881 in Salzburg geborene Tochter eines jüdischen Hoflieferanten berichtet auf zum Teil sehr amüsante Weise über ihre Kindheit und Jugend vor der Jahrhundertwende, aber auch über die Auswirkungen der beiden Weltkriege und des Antisemitismus auf ihre weit verzweigte Familie. "Durch die Schwester meines Vaters sind wir mit den Neuwirths verwandt. (...) Die Neuwirths hatten ein Bild vom Maler Faistauer, das ihnen weggenommen wurde, als sie emigrierten. Als sie wieder nach Salzburg kamen, hörten sie, dass das Bild nun irgendein Arzt hatte. Sie gingen zu ihm hin und kauften das Bild zurück. Sie mussten es bezahlen! Ihr eigenes Bild. Das Gleiche ist ihnen mit einem Teppich passiert. Sie wohnten in einer Pension in Salzburg, und da sah Hella ihren Teppich auf dem Boden liegen!"

Akustische Zeitreise

Eine praktische Anwendung finden die Interviews auch im Projekt "Hörspuren", in dem das Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte den "Anschluss" Österreichs an das "Deutsche Reich" im Jahr 1938 vor allem durch Erinnerungen von Zeitzeugen greifbar macht. Wien mit seinem relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil war damals ein Brennpunkt des Geschehens. Um der Nachwelt einen möglichst unmittelbaren Eindruck von den damaligen Ereignissen und ihren Auswirkungen auf die Menschen zu geben, haben sich die Projektverantwortlichen Maria Ecker, Philipp Haydn und Albert Lichtblau eine ganz besondere Form der Vermittlung überlegt: "Wir haben Audio-Guides für vier Wiener Hörwege erarbeitet, mit welchen sich Interessierte – ausgerüstet mit Audioplayer, Kopfhörer und Stadtkarte – vor Ort auf die Spuren dieses verhängnisvollen Jahres machen können", sagt Albert Lichtblau. Für jene, die diese düstere Zeitreise nicht an den realen Orten des damaligen Geschehens antreten können, wurde übrigens eine interaktive Website eingerichtet. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 01.09.2010)

=> Wissen: Aufarbeitung und Archivierung

Wissen: Aufarbeitung und Archivierung

Das Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte wurde 2004 als fakultätsübergreifende, interdisziplinäre Einrichtung der Universität Salzburg gegründet und beschäftigt sich in seiner Forschung und Lehre vor allem mit dem Judentum in der Diaspora. Heuer bietet das Zentrum erstmals ein viersemestriges Masterstudium für jüdische Kulturgeschichte an. Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Judentums in der Salzburger Regionalgeschichte verwaltet das Zentrum auch Kopien von Archiven mit Interviews und Berichten von Überlebenden des Holocaust sowie von deutschsprachigen Immigranten in Israel.

Die Österreichische Mediathek (OeM) ist eine Außenstelle des Technischen Museums Wien. Ihr audiovisuelles Archiv enthält eine Million Tonaufnahmen und Videos zur österreichischen Kultur- und Zeitgeschichte. Die OeM sammelt publizierte Tonträger und Videos verschiedener Herkunft, vor allem aber österreichische Produktionen. Sie stellt auch selbst audiovisuelle Quellen her, zum Beispiel Video- und Tonaufnahmen von Vorträgen, Diskussionen und Pressekonferenzen, Mitschnitte von Rundfunksendungen und Alltagsdokumentationen. (grido)