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Erinnerungen an den Liebessommer, hier bei einem Gedenkkonzert in San Francisco im Jahr 2007: Thomas Pynchon erweckt die durchgeknallten alten Zeiten virtuos zu neuem Leben.

 

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Thomas Pynchon, "Natürliche Mängel". Übers. v. Nikolaus Stingl. € 24,95 / 480 Seiten. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010

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Der Kontrast könnte größer kaum sein. Gegen den Tag (Against the day), der vorletzte Roman von Thomas Pynchon, dem großen Enigmatiker der amerikanischen Literatur, war 1600 Seiten stark, ein rahmensprengendes, von Hundertschaften von Figuren bevölkertes Monstrum, die oft über zig Kapitel hinweg verschwanden, um an unvermuteter Stelle wieder aufzutauchen; Schauplatzwechsel führten über den Globus und Jahrhunderte hinweg, kurzum, die Großarchitektur dieses ausladenden literarischen Gebäudes war so labyrinthisch vertrackt, dass nur Mitglieder der Besessene- Pynchonianer-Fraktion mit- und durchkamen.

Für Inherent Vice, 2009 in den USA erschienen, jetzt unter dem deutschen Titel Natürliche Mängel bei Rowohlt publiziert, haben US-Kritiker Bezeichnungen wie "Pynchon light" oder "Pynchon für jedermann" gefunden. Der Roman bescheidet sich mit moderaten 480 Seiten; er ist um eine einzige Hauptperson herum konstruiert, den Hippiedetektiv Larry "Doc" Sportello, den wir, gemeinsam mit einem gewitzten Erzähler, von der ersten bis zur letzten Seite nicht aus den Augen verlieren. Von einem Abstecher nach Las Vegas abgesehen, spielt Natürliche Mängel fast ausschließlich in Los Angeles und ausschließlich 1969 und 1970, in der Zeit kurz nach den Mordorgien, mit denen Charlie Manson und seine "Family" dem letzten Rest schwelgerischer Hippie-Seligkeit den Garaus gemacht hatten.

Ein überschaubarer Rahmen also, was aber nicht heißt, dass der alte Pynchon (Jg. 1937) den Biss verloren hätte. Im Gegenteil: Natürliche Mängel ist scharf, satirisch, cool, aber auch voll sentimentaler Zuneigung zu einer vergangenen Ära; ein Buch mit multiplen Lesemöglichkeiten, das sich als Hommage an Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler ebenso lesen lässt wie als großer L.A.-Roman. Vor allem aber sind die Natürlichen Mängel eine penible literarische Bestandsaufnahme dessen, was man "psychedelische Kultur" nannte. Diese erweckt Pynchon gleich auf den ersten Seiten zum Niederknien exakt zu neuem Leben, wenn er auf dem Türschild von Sportellos Einmannfirma LSD ("Lokalisierung, Sicherheitschecks, Detektei") ein charakteristisches Logo prangen lässt: "Die Darstellung eines riesigen blutunterlaufenen Augapfels mit buchstäblich Tausenden von durchgeknallten Kapillaren in den psychedelischen Lieblingsfarben Grün und Magenta, mit deren detaillierter Wiedergabe Doc eine Kommune von Speedfreaks beauftragt hatte." Wer dieses Auge nie gesehen hat, der hat auch nie in den 1960er- und 1970er-Jahren gelebt.

Den gesamten Roman hindurch ist zu merken, welchen Spaß Pynchon daran gehabt haben muss, das populärkulturelle Arsenal der 60er/70er zu durchwühlen. Natürliche Mängel wimmelt von realen und fiktiven Fernsehsendungen, ebensolchen Popbands (namentlich den "Boards"), sonderbaren Drogensorten und merkwürdigen Antörn-Gewohnheiten, bizarren Polit-Aktivisten ("Arische Bruderschaft"), als kleiner Vorbote des Internets taucht das Arpanet auf, und von den Details der Discokugeln bis hinunter zur Farbgebung der Langflorteppiche werden die Interieurs der Zeit penibel inventarisiert. All die Details sind spielerisch auf einer Krimi-Handlung aufgefädelt, bei der man, ob Pynchons auch auf der Kurzstrecke überbordenden Fantasie, ab und zu ein paar Seiten lang den Faden verlieren kann, aber das passt schon so. Wer's ganz genau wissen und alle Anspielungen bis in die Tiefenschicht entschlüsseln will, schaut halt im Pynchon-Wiki nach (pynchonwiki.com).

Nur konsequent, dass Sportello seinen Fall in diesem Ambiente im Zustand des Dauerzugedröhntseins, nun ja, "löst" oder lösen muss, weil es ihm leider nicht gegeben ist, seine Existenz im bloßen Amüsement aufgehen zu lassen. Wie immer bei Pynchon kommt, neben verschwenderischem Sprachwitz, den Übersetzer Nikolaus Stingl in feinen deutschen Nuancen wiedergibt, auch die Paranoia nicht zu kurz: Die Macht des Bösen ist ein von einem Schiff aus agierendes Konsortium, das, fast wie im richtigen Leben, im Spannungsfeld zwischen Kriminalität und Big Business operiert. Bei einem Showdown zwischen Sportello und Crocker Fenway, einem Abgesandten der Finsterlinge, prallen die Welten zusammen: Auf der einen Seite die über Leichen gehenden Macher der Weltgeschichte mit ihrer grenzenlosen Verachtung für alles, was nicht ihresgleichen ist ("Immobilien, Wasserrechte, Öl, billige Arbeitskräfte - das gehört alles uns, das hat uns schon immer gehört. Sie sind bloß ein winziges Tierchen in einem Schwarm von Eintagsfliegen").

Auf der anderen Seite der hedonistische Schelm Sportello, Spezialist für alles, was törnt und träumen macht, und stets auch auf der Suche nach einem netten Hippie-Girl, das Verständnis für die Bedürfnisse "des alten, wohlbekannten Ständers" aufbringt. Wo Pynchons Sympathien liegen, ist evident. Die Natürlichen Mängel sind nicht nur groovy, sondern, aller Nostalgie zum Trotz, auch politisch auf der Höhe der Zeit. (Christoph Winder / DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.9.2010)