Russland, Paris, Argentinien: Edgardo Cozarinsky

Foto: Mordzinski

Obwohl sich Argentinien in den letzten vier Jahrzehnten in ein Auswandererland verkehrt hat, ist Immigration immer noch eines der großen Themen seiner Literatur. Oft folgen die Autoren, Autorinnen ihrer eigenen Familiengeschichte, in umgekehrter Richtung gewissermaßen, indem sie in Europa Spuren ihrer Vorfahren suchen.

Diesem ahnengeschichtlich motivierten Interesse verdanken wir beeindruckende Werke, von Antonio Dal Masetto zum Beispiel zwei Bände über das erinnerte und nicht wiedergefundene Italien seiner Mutter (Als wäre alles erst gestern gewesen und Als wärs ein fremdes Land, deutsch von Susanna Mende, Rotpunktverlag) oder etliche Romane und Erzählungen des ihm wesensverwandten Andrés Rivera, der eigentlich Marcos Ribak heißt und die Lebenswege seiner unentwegt rebellischen Verwandten von einem ukrainischen Schtetl nach Villa Crespo, in das jüdische Viertel der argentinischen Hauptstadt, schildert. Schade, dass von Riveras Werk, bis auf einen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschienenen Roman (Der Farmer, übersetzt von Peter Tremp, Lateinamerikaverlag Solothurn), nichts auf Deutsch vorliegt. Mitteleuropa, so der Originaltitel eines seiner Erzählbände, ist für ihn kein nostalgischer Begriff, sondern ein Ort, an dem sich Verfolgte zu wehren beginnen.

Im Gegensatz zu Dal Masetto und Rivera ist der Schriftsteller und Filmemacher Edgardo Cozarinsky, dessen Großeltern aus dem zaristischen Russland nach Südamerika geflohen waren, seinerseits emigriert, Mitte der Siebzigerjahre nach Paris, wo sich eine rege argentinische Kulturszene gebildet hatte. Seit einigen Jahren pendelt er zwischen der französischen Hauptstadt und Buenos Aires. Sein Roman El rufián moldavo, der unter dem sperrigen Titel Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich ... in der Übersetzung von Sabine Giersberg jetzt als Wagenbach-Taschenbuch erschienen ist, beginnt mit einem programmatischen Satz: "Geschichten werden nicht erfunden, sie werden vererbt", erstreckt sich über ein Jahrhundert, wird von einem wissbegierigen Studenten in Gang gehalten, der sich in den Kopf gesetzt hat, seine Diplomarbeit über das jiddische Theater von Buenos Aires zu verfassen, und überlappt sich mit der verbrecherischen Energie des weitverzweigten Zuhälterrings Zwi Migdal.

Mit Heiratsversprechen lockten dessen Emissäre seit Ende des 19. Jahrhunderts jüdische Mädchen aus Polen und Russland nach Argentinien, wo sie dann zur Prostitution gezwungen wurden. Auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte Zwi Migdal fünfhundert Mitglieder, die 2000 Bordelle mit 30.000 Sexarbeiterinnen kontrollierten, eigene Versammlungslokale, Synagogen und Friedhöfe betrieben und sich Politiker, Richter und Polizisten durch Bestechung gefügig machten.

Erst 1930 wurde der Ring zerschlagen, nachdem eine der versklavten Frauen, die aus Lódz stammende Ruchla Laja Liberman, wider alle Drohungen Anzeige erstattet hatte. Die jüdische Gemeinde war schon lange vorher gegen diese "Gesellschaft zur gegenseitigen Unterstützung" aufgetreten, aus moralischen Gründen und weil sie antisemitische Reaktionen befürchtete, eine Wiederholung der Ereignisse vom Jänner 1917, als es während der Niederschlagung eines revolutionären Streiks in Buenos Aires zu pogromartigen Ausschreitungen gekommen war.

Cozarinsky überlässt es seinem Ich-Erzähler, eben dem jungen Publizistikstudenten, die Fäden zu entwirren, die sich zwischen dem unheilvollen Wirken von Zwi Migdal, dem Verfasser des jiddischen Singspiels "Der moldawische Zuhälter" und zwei Mitwirkenden der Aufführung spannen. Aber dem Autor geht es nicht nur darum, das Bild einer Schar osteuropäischer Immigranten zu entwerfen, in dem Elend und Aufstiegswille, Musikbesessenheit und Liebessehnsucht, Verderbtheit und Unschuld zueinanderfinden; sein Roman ist auch ein Plädoyer dafür, sich "für die Archäologie der jüngeren Vergangenheit" zu begeistern, statt immer nur das wahrzunehmen, "was in Mode und aktuell ist", einzudringen "in ein dichtes Netz an gelebtem Leben", an etwas teilzuhaben, "das mir weniger unbedeutend erschien als die erbärmliche Gegenwart".

Die Ursache dieser Hingabe, die der Verfasser mit seinem Helden teilt, erfahren wir nicht: "Ich habe kein Interesse, mich selbst zu erforschen, die Gründe dieser Wesensart zu verstehen, die ich zweifellos vor mir selbst verberge. Das überlasse ich mit Vergnügen all den vielen Landsleuten, die der Psychoanalyse huldigen."

Mit der stilistischen Eleganz und feinen Ironie seiner Prosa setzt Cozarinsky eine Tradition der argentinischen Literatur fort, die sich an der angelsächsischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts geschult hat und von Jorge Luis Borges begründet worden ist. Das Vergnügen, das sich der Autor zuschreibt, teilt sich auch den Lesern mit.

Speziell solche in Österreich hätten einigen Grund, sich mit Cozarinskys Büchern zu beschäftigen, nicht nur deshalb, weil sie mit Hinweisen auf Wiener Schlager und Operettenmelodien gespickt sind. Im Moldawischen Zuhälter  erfahren wir beispielsweise, dass die argentinische Erstaufführung von Ferdinand Bruckners hellsichtigem Drama Die Rassen im Teatro Cómico von antisemitischen Gruppen mit Gasbomben gestört wurde. In der Erzählung El fantasma de la Plaza Roja (Das Gespenst vom Roten Platz) aus dem noch nicht ins Deutsche übersetzten Band Tres fronteras (Drei Grenzen) aus dem Jahr 2006 erinnert Cozarinsky an die Schauspielerin Franziska Gaal (die mit Paul Hörbiger, Theo Lingen und Hans Moser auf der Bühne und vor der Kamera gestanden war) und zugleich an seinen sieben Jahre älteren Freund Enrique Raab, der als einer der bedeutendsten Journalisten Argentiniens verehrt wird.

Raab war noch in Wien geboren, am 2. Februar 1932, und hatte nach der Annexion Österreichs mit seinen Eltern in Buenos Aires Zuflucht gefunden. Dort machte er sich einen Namen als kundiger, scharfsinniger, bei Bedarf auch spöttischer Chronist des politischen wie kulturellen Lebens, womit er sich die Wut rechtsgerichteter Kreise zuzog. Cozarinsky und er teilten die Begeisterung für Film, Musik, Literatur, überhaupt für alles, was die Kunst des 20. Jahrhunderts für sie bereitzuhalten schien. Nur dass Cozarinsky aufgrund der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung und der Zunahme politischer Gewaltakte für sich keine Zukunft in Argentinien sah und im April 1974 das Land verließ.

Franziska Gaal sei ihm deshalb unvergesslich geblieben, weil er ihren Namen kurz vor seiner Abreise zum ersten Mal gehört habe, anlässlich eines Abendessens bei Enrique Raab, in dessen Wohnung in der Calle Viamonte. Obwohl er auf der Mordliste der paramilitärischen Triple A stand, kam für Raab Emigration nicht infrage. Es heißt, dass ihm die Revolutionäre Arbeiterpartei, für die er heimlich Artikel verfasste, das Angebot unterbreitete, ihr Pressebüro in Frankreich zu leiten. Raab habe abgelehnt, mit der Begründung, dass er nicht noch einmal eine Existenz begründen wolle.

Zuflucht Buenos Aires

Im Mai 1977 erfuhr Cozarinsky in Paris, dass Raab wenige Wochen zuvor von einem Einsatzkommando der Militärjunta aus seiner Wohnung verschleppt worden sei. Er wurde, was der Autor nicht erwähnt, in der ESMA, einem Konzentrationslager der Marine, noch einmal gesehen. Entweder ist er dort zu Tode gefoltert oder mit einer Spritze betäubt, in ein Flugzeug verfrachtet und über dem Südatlantik abgeworfen worden. Sowohl katholische Würdenträger als auch Vertreter der jüdischen Gemeinde hatten nach Raabs Verschwinden beteuert, nichts für seiner Rettung unternehmen zu können.

Wie Enrique Raab ist auch die Protagonistin von Cozarinskys letztem Roman Lejos de dónde (Weit von wo), der letztes Jahr in Spanien erschien, in Wien geboren und Jahrzehnte später in Buenos Aires umgekommen, allerdings bei einem Verkehrsunfall.

Die Geschichte setzt im Jänner 1945 ein. Da ist die Frau, mit zwanzig Kilo Zahngold und dem Reisepass einer ermordeten Jüdin namens Taube Fischbein im Rucksack, von Auschwitz über Teschen und Brünn nach Wien unterwegs, wo sie das Gold verhökern und sich weiter nach Italien durchschlagen wird. Im Vernichtungslager hat sie als Büroangestellte gearbeitet, der vagen Beschreibung nach im Standesamt. Ihre Tochter, aus einer flüchtigen Beziehung zu einem SS-Mann, hat sie bald nach der Entbindung zu einer polnischen Familie in Pflege gegeben. Dank eines Empfehlungsschreibens des Pfarrers von Rodaun gelangt sie auf der katholischen Rattenlinie für NS-Kriegsverbrecher nach Argentinien, wo sie ein ebenso unauffälliges wie reduziertes Leben führt.

Ihre wahre Identität gibt sie nie preis. Infolge einer Vergewaltigung bringt sie einen Jungen zur Welt, der sich später, nach ihrem Unfalltod, eher zufällig den aufständischen Montoneros anschließt. Er ist davon überzeugt, dass seine Mutter als Häftling in Auschwitz gewesen sei. Wegen ihres usurpierten Namens erfährt er den latenten Antisemitismus seiner Umgebung. Mitte der 70er- Jahre flieht er sowohl vor den Militärs als auch vor den eigenen Genossen nach Europa. Die Art, wie er die Flucht einfädelt, lässt an die seiner Mutter zu Kriegsende denken. Im Dezember 2008 wird er im Dresdner Hauptbahnhof seiner Halbschwester begegnen. Die beiden erkennen einander nicht.

Cozarinsky verleiht dieser erfundenen Geschichte Glaubwürdigkeit allein dadurch, dass er sie topografisch exakt ansiedelt und mit Realien aller Art ausstattet. Die deutschen Namenswörter gibt er zumeist korrekt wieder. Anfechtbar bleibt die Geschichte trotzdem, durch viele unwahrscheinliche Details ebenso wie durch das vordergründige Spiel mit Identitäten. Die schon im "Moldawischen Zuhälter" erwähnte Behauptung, wonach Geschichten nicht erfunden, sondern ererbt würden, steht dem vorletzten Kapitel als Selbstzitat voran. Erst wenn man es umkehrt, wird sie dem Roman gerecht. (Erich Hackl / DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.10.2010)