Marisa cornuarietis trägt normalerweise ein nicht zu kleines Haus mit sich herum.

Foto: Silke Grünewald, Universität Tü-bingen

Wird ein Marisa-Embryo aber während einer bstimmten Zeit hohen Platin-Konzentrationen ausgesetzt, dann bildet sie kein Haus aus, sondern trägt ohre Schale im Inneren.

Foto: Heinz Köhler und Irene Gust, Universität Tübingen

Tübingen - Forscher der Universität Tübingen haben erstmals eine künstliche Nacktschnecke gezüchtet. Die Biologen erreichten durch Zugabe von Platin bei Embryonen einer Süßwasserschnecke, dass diese keine äußere Schale entwickelte - sondern eine kleine, innere.

Nur ein bis zwei Tage entscheiden während der Embryonalentwicklung der Süßwasserschnecke Marisa cornuarietis darüber, ob die Tiere später ein Gehäuse tragen oder nicht. In diesem kurzen Zeitfenster ist es möglich, die Wachstumsrichtung des schalenbildenden Gewebes „umzuprogrammiert". Das Team um Heinz Köhler und Rita Triebskorn vom Institut für Evolution und Ökologie hat den Moment genutzt und eingegriffen in die Entwicklung der Weichtiere. Daraufhin bildeten die Schnecken keine äußere gewundene Schale, sondern einen kleinen Hohlkegel im Körperinneren - eine ähnliche Entwicklung nehmen die ebenfalls zu den Weichtieren gehörenden Tintenfische.

Die Umprogrammierung hat bei der Schnecke auch Konsequenzen für die Lage anderer Organe: So liegt die Kieme nun nicht, wie üblich, über dem Kopf in einer Mantelhöhle sondern erstreckt sich stattdessen am Hinterende des Tieres frei ins Wasser. Die von den Forschern in der Zeitschrift Evolution & Development vorgestellten Befunde unterstützen die Ansicht, dass sich die Körpergestalt von Organismen im Laufe der Evolution durch vergleichsweise geringfügige Modifikationen von Signalwegen sprunghaft verändert haben könnte.

Platin schafft den Trick

Dass sich die Körperform von Schnecken künstlich umgestalten lässt, entdeckte Raphaela Osterauer, Doktorandin am Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen, bei Studien zur Giftwirkung von Metall-Ionen. Die Forschungsgruppe von Heinz Köhler erarbeitete hierzu vor einigen Jahren einen Biotest auf der Basis von sich entwickelnden Schneckeneiern, der sich als sehr empfindlich erwiesen hat. Als die Biologin die Toxizität des in Kfz-Abgaskatalysatoren eingesetzten Edelmetalls Platin überprüfen wollte, stellte sie bei hohen Konzentrationen zweiwertiger Platin-Ionen fest, dass die in den Eiern heranwachsenden Embryonen kein Gehäuse ausbildeten.

Weitere Experimente zeigten, dass die Umprogrammierung nur in einer gewissen Zeitspanne von ein bis zwei Tagen während der Embryonalentwicklung möglich war. In dieser Zeit wird die Wachstumsrichtung der Schalendrüse festgelegt. Sie bestimmt darüber, ob der Eingeweidesack der Tiere von einem normalen Mantel, der die äußere Schale bildet, überwachsen wird oder ob sich das schalenbildende Gewebe stattdessen in den Körper einstülpt.

Es ist somit möglich, nur mit einer kurzzeitigen Platingabe während dieser entscheidenden Entwicklungsphase die Wachstumsrichtung dieses Gewebes mit all seinen Konsequenzen für die Schalenbildung, die Ausprägung des Mantels und die Lage der Kiemen unumkehrbar zu beeinflussen. Nach Absetzen von Platin entwickeln sich die Schnecken entsprechend ihres neuen Entwicklungsprogramms, schlüpfen aus den Eiern, nehmen wie üblich Nahrung auf und ändern ihre neu definierte Körpergestalt auch während des weiteren Wachstums nicht. Sie erreichen ein Alter von mehr als einem halben Jahr. In dieser Zeit wächst in den Tieren eine innere, ebenfalls kalkige Schale in der Form eines leicht gebogenen Hohlkegels heran, die nach dem Tod der Schnecken zurückbleibt.

Entwicklungsbiologisches Modell

Da auch natürlich vorkommende Nacktschnecken und Tintenfische in der Größe reduzierte innere Schalen ausbilden, könnte die künstlich modifizierte Marisa-Schnecke als entwicklungsbiologisches Modell für die Erklärung der Evolution innerer Schalen bei Weichtieren dienen. So wurde in jüngsten Studien der Forschergruppe das Fehlen eines Gehäuses nach Platinbehandlung auch bei zwei nur entfernt verwandten Lungenschneckenarten beobachtet.

Durch die Wirkung von Platin werden die Schnecken genetisch nicht verändert, sie sind keine „Mu­tanten". Die Forscher nehmen jedoch an, dass die Regulation der Aktivität, das heißt das An- und Abschalten von Genen, modifiziert wird, und dass derartige Modifikationen auch während der Evolution von Körperformen der Weichtiere bedeutsam waren. Aus diesem Grund plant die Forschergruppe, sich zusammen mit Kollegen verstärkt auf die Analyse von durch Platin-Ionen beeinflussten Genaktivitäten während der frühen Entwicklung der Schnecken zu konzentrieren.

Die Tübinger Biologen gehen davon aus, dass künstlich "schalenlose" Schnecken im Freiland nicht auftreten. Durch Abnutzung von Abgaskatalysatoren wird zwar Platin in die Umwelt eingetragen, doch solch hohe Platinkonzentrationen wie in den Experimenten mit Schnecken werden bisher nicht erreicht. (red)