Diese Geschichte hat mir eine befreundete Volksschullehrerin erzählt. Als sie am ersten Schultag die Klasse betrat, fragte sie eine Sechsjährige: "Wie alt bist denn du?" Rührende Unbefangenheit der kindlichen Seele! Meine Freundin (um die fünfzig, sieht viel jünger aus) fragte gütig zurück: "Was schätzt du denn?" . Antwort, wie aus der Pistole geschossen: "Achtzig."

Selbstverständlich ist meine Freundin Pädagogin genug, um auch eine schlanke Einschätzungsdifferenz von dreißig Jahren wegzustecken wie nix. Allerdings lag, so schien mir, als sie mir von dieser Begebenheit berichtete, dann doch ein Rest von Irritation in der Luft.

Die Frage "Für wie alt hältst du mich?" ist eine undankbare Frage. Wie man sie beantwortet: Man beantwortet sie falsch. Sagt man einer Vierzigjährigen, sie sähe aus wie zwanzig, glaubt sie, man lügt. Sagt man einer Vierzigjährigen, sie sähe aus wie "höchstens sechzig" , bereitet man auch kein Vergnügen. Alterseinschätzung ist Glücksache.

Jopie Heesters ist 107, alt genug, um noch als fröhlicher Entertainer unter den Nazis gearbeitet zu haben, mehr als 106 würde man ihm aber nicht geben. Richard Lugner steht so im Saft, dass man ihn für einen Jahrgänger von David Beckham halten könnte. Umgekehrt hat mir kürzlich eine Dame gesagt, dass ich in natura "anders" aussähe als das Schädelchen, das links neben diesem Textlein prangt. Das "anders" war ein beschönigender Ausdruck dafür, dass meine nächste Botoxbehandlung überfällig ist.

Aber, bitte sehr, welcher Kolumnist ist schon scharf drauf, seine Alterungsschübe durch einen halbjährlichen Wechsel seines Konterfeis zu dokumentieren? Man hat ja auch seine Eitelkeit. Seien Sie also gewarnt. Wann immer Sie einem Kolumnisten/einer Kolumnistin erstmals in Fleisch und Blut begegnen (bei einer Lesung etwa), steht ein Geriatrie-Schock bevor.

Man kann sich davor schützen. Am einfachsten, Sie visualisieren das Individuum Ihrer Wahl vorbereitend mit Gehstock, Hörbehelfen und Gleitsichtbrillen, subtrahieren Haare von seinem Haupt und addieren ein paar Altersflecken und Krähenfüße hinzu. Das Toupet müssen Sie sich in meinem Fall noch nicht dazudenken. Aber wenn Sie mich zufällig in der Straßenbahn treffen sollten: Bieten Sie mir ruhig ihren Platz an, sehr gerne, bittedankeschön. (Christoph Winder, ALBUM/DER STANDARD - Printausgabe, 16./17. Oktober 2010)