Abendmahl mit Verstorbenen: In Apichatpong Weerasethakuls "Uncle Boonmee" sind die Grenzen zwischen den Welten durchlässig.

Foto: Stadtkino

Wien - Das Kino war schon immer ein Ort für Sensationen. Gemeint ist das nicht im marktschreierischen, sondern im engen Sinn des Wortes: Bilder werden im dunklen Saal zu Projektilen, die Empfindungen auslösen. Wenn man dem Eindruck von Apichatpong Weerasethakuls Film Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives, der dieses Jahr in Cannes völlig verdient die Goldene Palme gewonnen hat, auf die Spur kommen will, eignet sich dieser Begriff recht gut: Noch vor jedem Verständnis führt einen dieser Film mit sanfter Geste in einen Kosmos, in dem man sich aufgehoben und zugleich ganz gegenwärtig fühlt.

Die Schönheit von Weerasethakuls sechstem Langspielfilm liegt so auch weniger in hervorgehobenen Momenten einer Spiritualität, die vom Neben- und Miteinander von Menschen und Geistern erzählt, als darin, dass er den Betrachter in einem umfassenderen Sinn an seiner Welt teilhaben lässt. Schon ganz zu Beginn, wenn sich ein festgebundener Ochse im magischen Dunkel der Nacht freimacht und in den Dschungel galoppiert, nur um dort auf Wesen mit rotglühenden Augen zu treffen, geht das Übersinnliche in einer sehr irdischen Sinnlichkeit auf - und wirkt deshalb keinen Moment lang esoterisch.

Im Vergleich zu Tropical Malady (2004) und Syndromes and a Century (2008) ist Uncle Boonmee sogar der zugänglichere Film des Thailänders - es fehlt etwa die zweigeteilte Struktur, wenngleich auch diese Arbeit Umwege nimmt, von denen man nicht mit Sicherheit weiß, wie sie sich zu der zentralen Erzählung verhalten. Aber genau in diesem transitorischen Fluss, der mühelos Übergänge zwischen den Sphären schafft, liegt auch der immense Reiz des Films. Einmal tritt man in eine Märchenwelt ein, in der sich eine Prinzessin an einem Teich nach ihrem idealisierten Ebenbild verzehrt und danach ausgerechnet mit einem Katzenwels Sex hat.

Friedvolle Zusammenkunft

Nicht nur Geister, Menschen und Tiere stehen in diesem Film in Austausch, auch manch ein Motiv, das man aus anderen Filmen von Weerasethakul kennt, kehrt wieder. So radikalisiert Uncle Boonmee etwa das Thema Krankheit: Boonmee (Thanapat Saisaymar) leidet an einem schweren Nierenschaden und wird bald von dieser Welt gehen. Charakteristisch für den tröstlichen Tonfall des Films ist, wie dieser traurige Anlass zu einer sozialen Zusammenkunft veranlasst, bei der sich Boonmees verstorbene Frau am Esstisch materialisiert und sich dann auch noch sein lange vermisster Sohn als zotteliger Affenmensch dazugesellt. Man blättert dann sogar gemeinsam im Fotoalbum.

Das profane Leben ist hier nämlich mindestens genauso wichtig wie eine Form transzendentalen Aufgehobenseins. Und auch eine genaue historische Verortung: Nabua, der Ort im Nordosten Thailands, wo Uncle Boonmee spielt, hat eine unrühmliche Vergangenheit - bis in die 80er-Jahre bekämpften sich hier Militärs und Kommunisten -, auf die der Film Bezug nimmt. Im umfassenden Primitive Project, zu dem auch der Film gehört, hat sich Weerasethakul auf vielfältige Weise mit Traumata, Mythen und Lebensformen der Region beschäftigt.

Großzügige Angebote, zwischen Formen und Gattungen zu wechseln - und dabei Brücken bis zu westlichen Ikonografien zu bauen -, zeichnen auch Uncle Boonmee aus. Und doch bleiben die Gesten klein. Die letzten zehn Minuten kehrt der Film in eine urbane Welt zurück. In einer Karaoke-Bar läuft ein fröhlicher Song. Das Leben geht einfach weiter, da wie dort. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 3. November 2010)