In Wien passiert das, was in München seit zwei Jahrzehnten der Fall ist, in Bremen, Barcelona und Paris ebenfalls seit Jahren Realität ist: Eine Großstadt wird von einer rot-grünen Koalition regiert. Im europäischen Kontext ist Wien ein Nachzügler, für Österreich ist eine rot-grüne Zusammenarbeit aber ein Novum.

Regierungserfahrung haben die Grünen seit 2008 in Graz und seit 2003 in Oberösterreich sammeln können. Die dortigen Grünen mit Rudi Anschober an der Spitze waren schon immer pragmatisch, bürgerlich. Landeshauptmann Josef Pühringer lässt dem Juniorpartner der ÖVP genug Luft, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass die grüne Handschrift nicht allzu deutlich zum Vorschein kommt. Zu einer Koalitionsaussage ließ er sich im Wahlkampf im Vorjahr nicht bewegen, riss aber auch nicht zu viele Gräben auf, sodass eine Zusammenarbeit auch nach dem Urnengang wieder möglich war. Von dem Zweckbündnis profitieren beide, und die Koalition funktioniert - zumindest nach außen hin - relativ friktionsfrei.

In Wien gibt es nicht nur mehr mediale Öffentlichkeit, sondern die SPÖ hat sich vor allem in den vergangenen Jahren ans absolutistische Regieren gewöhnt. Michael Häupl wird daher kein einfacher Partner für Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou sein. Sie kann aber als ersten machtpolitisch wichtigen Verhandlungserfolg verbuchen, dass sie sich ein interessantes Ressort hat zimmern können. Die Stadtplanung ist ein zentrales Schlüsselressort, die Verkehrs- und Energieagenden bergen aber gerade für die Grünen Konfliktpotenzial.

Als Juniorpartner in der Regierung sind die Grünen noch vor Amtsantritt in der Realität angekommen: Sie mussten von ihren zwei wichtigen Wahlkampfforderungen - eine Jahreskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel um hundert Euro und der Ausstieg aus Öl und Gas in dieser Legislaturperiode - Abschied nehmen. Die normative Kraft der faktisch fast leeren Kassen zwingt sie zu dem Schritt. So wird sich nach und nach zeigen, welche der politischen Forderungen den Realitycheck des Regierungsalltags überstehen.

Was ihnen bevorsteht, können die Wiener Grünen erahnen, wenn sie Joschka Fischers politisches Tagebuch Regieren geht über studieren lesen. Er schildert nüchtern die Alltagsprobleme seiner Partei in der ersten rot-grünen Koalition in Deutschland zwischen 1985 und 1987 in Hessen. "Wir wurden fast aufgerieben", schreibt er, "und mussten viele Träume aufgeben."

Es wird sich in Wien auch zeigen, ob grüne Individualisten bereit sind, politische Kontroversen und persönliche Abneigungen dem Ziel des Regierens unterzuordnen und ob sie Führung akzeptieren. Vassilakou muss sich nicht nur gegen Häupl, sondern auch gegen Schwergewichte in der eigenen Partei durchsetzen. Umgekehrt müssen die Roten lernen, nicht mehr alles alleine bestimmen und auf hemdsärmelige Art durchsetzen zu können.

Im politischen Spektrum hat sich mit Rot-Grün in Wien eine weitere Option aufgetan. Wenn die Grünen auch in Wien zeigen, dass sie regieren können, profitiert davon ebenso die ÖVP. Auch für sie ergeben sich dann weitere strategisch interessante und politisch mögliche Optionen. Wien könnte so Alternativen zur bisher scheinbar unausweichlichen großen Koalition auf Bundesebene weisen, die in den vergangenen Jahren vor allem bewirkte, dass die FPÖ wieder stärker wird. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.11.2010)