"Um neun Uhr erfolgt der erste Griff zur Fernbedienung: die Wiederholung der Telenovela Rote Rosen (Abb.) vom Vortag. Um zehn Uhr heißt es Hanna - folge deinem Herzen. Und um elf: Reich und schön. Gegen 11.30 Uhr kommt das Essen. Nach dem Mittagessen legt sie sich hin. Um 14 Uhr steht die aktuelle Folge von Rote Rosen auf dem Programm ..."

Foto: ARD

Gäbe es keinen Fernseher, sie wüsste vermutlich nicht, warum sie noch jeden Tag aufstehen sollte.

Ich frage mich: Was hätte meine Großmutter gemacht, gäbe es kein Fernsehen? Wäre sie so alt geworden ohne die Gesellschaft der vielen Seriendarsteller, mit deren Liebesleben und Intrigen sie seit Jahren Tag für Tag mitlebt und die ihr das Gefühl geben, nicht allein zu sein? Womit hätte sie sich die ganze Zeit beschäftigt, die vielen Jahre lang allein? Wäre sie glücklicher als jetzt?

Nein, glücklich ist sie nicht. Aber wer kann das schon im hohen Alter von sich behaupten. Nur wenige haben das Glück, an ihrem Lebensabend noch aktiv sein zu können. Wie mein Großvater, der noch mit über 70 Jahren Sport betrieben hat. Als man sein Ruderboot eines Tages dann abgetrieben am Donauufer fand, hieß es: "Einen schöneren Tod kann man sich nicht wünschen." Herzstillstand, ein Ende auf Knopfdruck. Keine Vorwarnung, kein Schmerz, kein Warten auf das Ende.

Und meine Großmutter? Zu Beginn konnte sie mit den geänderten Lebensverhältnissen, so schlagartig sie eingetreten waren, sehr gut umgehen. Sie blühte regelrecht auf. Schließlich hatte sich mit meinem Großvater einer verabschiedet, der seine Befehle nicht nur auf dem Kasernenhof, sondern auch in der Familie zu geben pflegte. Außerdem, so sagte man sich, soll er es mit der ehelichen Treue nicht allzu streng genommen haben. Leicht hatte es Großmutter sicher nicht. Dafür aber hat sie an der Seite eines Generals auch einiges erlebt. Der Höhepunkt ihres Lebens: vier Jahre in Paris als Gattin des Militärattachés. Außerdem: die Dreharbeiten eines Kriegsfilms in den St. Marxer Filmstudios, zu denen mein Großvater als militärischer Berater hinzugezogen wurde. Daraus entstand das Kernstück ihrer Fotosammlung - Bilder, in denen sie am Set mit Robert Mitchum und Richard Burton zu sehen ist. Die Fotos, aufgenommen in den 70er-Jahren, zeigen eine Frau in der Blüte ihres Lebens, flankiert von freundlich lächelnden Hollywoodlegenden.

Nach dem Tod des Generals gönnte sich meine Großmutter jedes Jahr im Herbst einen vollen Monat auf Fuerteventura, zusammen mit ein paar Freundinnen. Den Sommer verbrachte sie auf einem Campinggelände an der Donau. Die restliche Zeit sah sie fern. Großmutter hat immer schon gern ferngesehen. Was war in der Pension auch sonst zu tun? Es gab nichts zu tun. Als ihr Mann noch lebte, war sie die Frau des Generals. Heute ist sie Mutter längst erwachsener Kinder, gelegentlich Oma. Verpflichtungen und Ziele gibt es nicht, genauso wenig wie Wünsche und Hoffnungen.

Es gab nichts zu tun

Von Aufblühen war bald keine Rede mehr, die Blüte des Lebens längst vorbei. Meine Großmutter bekam Depressionen, lag wochenlang im Spital. Wegen der starken Antidepressiva durfte sie bald nicht mehr Auto fahren. Dann ging es schnell bergab. Keine Reisen mehr, kein Sommer auf dem Campingplatz.

Seit Jahren sieht sie nur mehr fern. Fernsehen ist zum einzigen Lebensinhalt geworden. Gäbe es keinen Fernseher, sie wüsste vermutlich nicht, warum sie noch jeden Tag aufstehen sollte. Das Essen kommt auf Rädern, aber es schmeckt ihr nicht. Der Reis ist zu körnig, sie lässt ihn stehen. Weil sie zu wenig isst, wird sie immer dünner und schwächer. Bei jedem meiner zu seltenen Besuche muss ich feststellen, dass sie noch ein Stück weiter in sich zusammengefallen und das Gewand in ihrem Kleiderkasten noch eine Nummer größer geworden ist. Mittlerweile kann sie kaum noch gehen. In der Wohnung muss sie aufpassen, dass sie nicht über einen der Teppiche fällt. Verlässt sie die Wohnung, braucht sie ein Stützgestell, aber sie verlässt die Wohnung ohnehin kaum noch.

Vor ein paar Jahren bestand ihr tägliches Bewegungspensum noch darin, einmal pro Tag um den benachbarten Häuserblock zu gehen. Heute, sagt sie, geht sie täglich ein paar Mal um den Wohnzimmertisch. Ich sage ihr, dass das nicht reicht, dass sie hinausgehen muss, aber meine Großmutter ist eitel: "Was sollen denn die Leute sagen, wenn sie mich so sehen! Wie sehe ich denn aus, ich falle ja durch das Gewand!"

Sie will niemanden mehr sehen. Selbst wenn ich sie anrufe, um zu fragen, ob ihr ein Besuch recht wäre, merke ich, welche Überwindung es ihr kostet, ihr tägliches Fernsehritual zu durchbrechen und sich aus der Depression zu reißen. Wenn ich sie am Telefon frage, wie es ihr geht, sagt sie ohne Umschweife: "Schlecht!" Mit jedem Anruf muss ich außerdem eine Spur lauter sprechen, weil die Lautstärke des Fernsehers im Hintergrund wieder etwas höher eingestellt ist. Frage ich sie dann, ob ihr ein Besuch recht wäre, sagt sie oft: heute nicht, sie fühle sich nicht gut. Wenn ich erwidere, dass ich nur heute in der Stadt wäre, überlegt sie es sich oft wieder, und ich schaue auf einen Sprung bei ihr vorbei.

Bin ich bei ihr, freut sie sich. Aber kaum sitzen wir am Wohnzimmertisch, um uns zu unterhalten, sagt sie: "Weißt du, ich habe immer wieder diese Gedanken, dass ich eigentlich nicht mehr will, dass ich des Lebens überdrüssig bin." Ich sage sofort: "Oma, so was darfst du nicht denken!" Danach aber fällt mir meistens nichts ein, was ich weiter sagen soll. Scheint die Sonne, sage ich: "Sieh doch hinaus, die Sonne scheint! Was für ein Tag! Du musst hinaus. Die Sonne tut dir gut!" Sie verspricht es und lächelt milde. "Du hast ja recht." Genauso gut könnte ich sagen: "Ich kann dich verstehen. Das ist kein Leben, das du führst, und keines, das du verdient hast. Gefangen in deiner Wohnung, die du aus eigenen Kräften kaum noch verlassen kannst. Und wozu auch? Keine Perspektiven, keine sozialen Kontakte, nichts, an dem du dich erfreuen könntest, nichts, das Spaß macht." Ich könnte weiters sagen: "Ein Glück, dass du wenigstens deinen Fernseher hast, der leistet dir Gesellschaft." Aber der Fernseher ist ein schlechter Gesellschafter. Er kann nicht zuhören.

Kein Wunder, dass meine Großmutter nicht mehr will und depressiv geworden bist. 15 Jahre lang, seit sie allein ist, sieht sie jeden Tag fern, von früh bis spät, das hält keiner aus. Nicht einmal sie, die ihr Leben lang für ihr fröhliches, herzliches Wesen, ihre Lebensfreude, ihr aufgewecktes Naturell beliebt war. Unsere Gespräche verlaufen einseitig. Ich erzähle, was in den letzten Monaten in meinem Leben passiert ist. Meine Großmutter hat naturgemäß wenig zu erzählen. Sie sagt: "Ich sehe halt viel fern."

Aus ihren Erzählungen und ergänzenden Recherchen lässt sich ihr Tagesablauf rekonstruieren: Zwischen vier und fünf Uhr morgens steht sie auf, trippelt auf ihren wackeligen Beinen in die Küche und macht sich einen Kaffee. Dann legt sie sich wieder aufs Bett, um zu rasten, bis es hell wird. Um neun Uhr erfolgt der erste Griff zur Fernbedienung: die Wiederholung der Telenovela Rote Rosen vom Vortag. Um zehn Uhr heißt es Hanna - folge deinem Herzen. Und um elf: Reich und schön. Gegen 11.30 Uhr kommt das Essen. Nach dem Mittagessen legt sie sich hin. Um 14 Uhr steht die aktuelle Folge von Rote Rosen auf dem Programm. Um 15 Uhr weht der Sturm der Liebe, um 16 Uhr folgt die Barbara Karlich Show. Um 18 Uhr: Verbotene Liebe. Zum Abendessen macht sie sich noch ein Wurstbrot, um 19.30 Uhr liegt sie schon im Bett.

Manchmal kommt abends ihr Sohn vorbei. Auch der ist schon in Pension, wohnt in der gleichen Stadt und sogar in ihrer Nähe. Ein Glück, denn sonst bekäme sie außer dem Essensboten tagein, tagaus keinen echten Menschen zu sehen. Die beiden spielen eine Partie Rummy, denn, so mein Vater: "Du musst etwas für deine grauen Zellen tun." Auch er sagt ihr, dass sie sich bewegen, hinausgehen muss. Er kontrolliert jedes Mal, ob sie den Stützwagen, der draußen im Stiegenhaus steht, benützt hat. Doch meine Großmutter ist gerissen und geht oft nur ins Stiegenhaus, um das Gestell ein paar Zentimeter zu verrücken, dass es so aussieht, als hätte sie es benützt. Sie lächelt, als sie mir das erzählt.

Eines Tages stand meine Großmutter wie üblich gegen halb fünf auf, fiel hin und schaffte es nicht, sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Fünf oder sechs Stunden lag sie hilflos, ein Häufchen Elend, auf dem Schlafzimmerboden, bis mein Vater zufällig vorbeikam. Seitdem trägt sie einen Alarmknopf am Handgelenk. Der verständigt die Außenwelt, sollte ihr etwas zustoßen.

Das Deprimierende: Meine Großmutter hat zwar Depressionen, aber körperlich ist sie gesund. Sie mag schwache Beine haben, weil sie zu wenig isst und sich nicht bewegt, aber sie hat keine Schmerzen. Sie ist nicht dement. Wir können uns normal unterhalten, sie fragt nach, vergisst nichts. Sie vergisst nicht, sich für die letzte Postkarte zu bedanken, obwohl diese schon einige Monate her ist. Sie ist 87, aber ihre Erinnerung lässt sie nicht im Stich. Bei jedem meiner Besuche landen wir in Paris. So auch letztes Mal, als ich ihr erzählte, dass ich in den 16. Bezirk übersiedelt bin, und ihr einfällt, dass sie in Paris im 16. Arrondissement gewohnt habe.

Der Zustand meiner Großmutter würde ihr erlauben, außer Haus zu gehen, in ein Kaffeehaus, um soziale Kontakte zu pflegen, Bridge zu spielen, wie andere auch. Aber das hat sie nie getan, und sie wird mit 87 nicht damit beginnen. Ein Altersheim? Sie würde wohl sagen: "Fernsehen kann ich auch alleine."

Letztlich ist die Frage, was wäre, hätte sie nie einen Fernseher besessen oder wäre die Glotze nie erfunden worden, hinfällig. Genauso wie das Wissen, dass sich meine Großmutter zwangsläufig hätte bemühen müssen, etwas mit ihrer Zeit anzufangen, weil es schlichtweg unmöglich ist, in einer Wohnung zu sitzen und nichts zu tun. Dass sie sich um soziale Kontakte hätte kümmern müssen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben.

Was bleibt ist der Gedanke an eine Welt ohne Fernseher, eine Utopie. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21.11.2010)