Selvagem Grande ist ein etwa zwei Kilometer breiter karger Fels, verloren in den Weiten des Atlantischen Ozeans. Für Menschen ist die Insel zwischen Madeira und den Kanaren ein denkbar unattraktiver Ort. Das Eiland ist gleichwohl dicht bevölkert - von Seevögeln, darunter etwa 30.000 Gelbschnabel-Sturmtaucher.

Sie kommen jedes Jahr zum Brüten hierher. Von März bis Anfang November weilen die Vögel auf der Insel, ziehen ihre Jungen groß, und suchen in den fischreichen Gewässern der Region nach Beute. Im Herbst aber ist es Zeit, sich auf die Reise zu machen. Nach zwei Wochen haben sämtliche Sturmtaucher Selvagem Grande verlassen. Sie steigen auf und nehmen Kurs auf den offenen Ozean. Wohin, das wusste lange Zeit niemand so genau.

Ähnlich wie die berühmten Albatrosse sind Sturmtaucher perfekt an ein Leben auf dem Meer angepasst. Während ihrer Winterwanderung bleiben sie monatelang auf hoher See. Dabei zieht es die Vögel in bestimmte Ozeangebiete wie den Nordwestatlantik, den Südatlantik sowie die Meeresregionen um Südafrika und vor der Küste Namibias. Auch dort gibt es reichlich Fische und Kalmare.

Erstaunlicher Flugplan

Ein portugiesisches Forscherteam hat die Wanderbewegungen der Gelbschnabel-Sturmtaucher genau untersucht und machte dabei eine erstaunliche Entdeckung. Die Wissenschafter versahen insgesamt 57 auf Selvagem Grande brütende Tiere mit kleinen Messgeräten. Mittels eines Abgleichs von Sonnenauf- und Sonnenuntergang und der Zeitangabe einer eingebauten Uhr berechnen und speichern sie die Position der Vögel. Nach ihrer Rückkehr im Frühling konnten die Experten ihnen die Geräte wieder abnehmen.

Die Auswertung der Daten ergab ziemlich genaue Flugverläufe - und verblüffende Unterschiede. Die Sturmtaucher von Selvagem Grande fliegen sehr verschiedene Überwinterungsgebiete an. Die Tiere scheinen tatsächlich so etwas wie individuelle Präferenzen zu haben, schreiben die Forscher heute im Fachblatt Proceedings of the Royal Society B.

Doch damit nicht genug: Manche der Vögel wechseln ihre Reiseziele. In einem Jahr bleiben sie zum Beispiel im Meeresgebiet zwischen Labrador und den Azoren, im darauffolgenden Winter zieht es sie weit in den Süden, vor die Ostküste Argentiniens. Ein noch halbwüchsiger Sturmtaucher, vier bis fünf Jahre alt, besuchte in nur zwei Saisonen gar sämtliche Überwinterungsgebiete - 108.000 Kilometer Flugstrecke.

Die Vögel sind die ersten Seevögel, bei denen flexibles Wanderverhalten entdeckt wurde. "Es würde mich aber überraschen, wenn sie die einzigen sind", sagt Studienleiter Paulo Catry. Die individuellen Unterschiede könnten Teil einer genetisch verankerten Variabilität sein, welche die Evolution neuer Verhaltensmuster fördert, so der Biologe.

So ließe sich die Anpassungsfähigkeit der Art steigern, und das wäre vor allem in Zeiten sich verändernder Umweltbedingungen wie dem Klimawandel vorteilhaft. (deswa, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. November 2010)