„Das Archiv ist die Rache der Journalisten an den Politikern“, sprach dereinst Robert Hochner. Weniger drastisch ausgedrückt zeigt das Archiv oft, wie sich Parteien in Windeseile wandeln, wenn sie von einer Oppositionspartei zur Regierungspartei werden. Aktuellster Anlass: Die Grünen und das Wiener Wahlrecht.

Noch im Mai 2010 konnte es den Grünen mit einer Wahlrechtsreform nicht schnell genug gehen. Es wurde sogar ein Notar engagiert, um unter dem Titel „Das unfaire SPÖ-Wahlrecht muss endlich reformiert werden“ folgendes beglaubigen zu lassen: „Zu diesem Zweck verpflichten sich die Grünen Wien, eine gemeinsame Initiative … mit den anderen im Wiener Gemeinderat vertretenen Parteien zur Änderung der Wiener Gemeinderatswahlordnung 1996 anzustreben und umzusetzen. Nach der Wahl zum Wiener Gemeinderat 2010 soll unabhängig von einer etwaigen Stadtregierungsbeteiligung durch Einbringung und Beschluss eines entsprechenden Initiativantrags die gegenständliche Wahlrechtsreform beschlossen werden.“

Im November 2010, am ersten Tag von Rot-Grün, bringen ÖVP und FPÖ den wortidenten Grünen Text im Wiener Gemeinderat ein. Und: Surprise, surprise! Die Grünen reden plötzlich abfällig von einem „blau-schwarzen“ Antrag. Die fadenscheinige Begründung für die Nicht-Unterzeichnung des eigenen notariell beglaubigten Wahlversprechens von David Ellensohn: Man habe sich mit der SPÖ im Koalitionspakt auf einen Arbeitskreis zur Wahlrechtsreform geeinigt, der auch das Wahlrecht für EU-Bürger und Drittstaaten-Angehörige auf Gemeinderatsebene beinhalten soll.

Aber was hätte dagegen gesprochen, sofort den ersten Schritt zur Wahlrechtsreform zu beantragen und dann Schritt zwei anzugehen? Es braucht keinen weiteren Arbeitskreis, um festzustellen, dass das aktuelle Wahlrecht nur der SPÖ nützt, weil schon mit 46 Prozent der Stimmen eine Alleinregierung möglich wäre, und diese aus machtpolitisch logischen Gründen natürlich verhindern will, dass es hier zu Änderungen kommt.

Rot und Grün haben nun mittels Beschlussantrag ihre Willensbekundung eingebracht, die besagt, dass die „Arbeitsgruppe Wahlrechtsreform“ bis Ende 2012 ein „modernes Verhältniswahlrecht“ legistisch umsetzen soll. Straches rechte Hand, Gudenus Junior, sprach von einem Umfaller. Umgefallen sind die Grünen nicht, aber die Umfallgefahr hat sich mit Sicherheit erhöht. (rasch, derStandard.at, 25.11.2010)