Der größte Grenzübergang zwischen den Palästinensergebieten und Israel ist ein staubiges Stück Niemandsland: 15000 Palästinenser passieren täglich den Checkpoint in Kalandia, um von der Westbank zur Arbeit nach Israel zu gelangen. Israelische Frauen besuchen ihn regelmäßig, um Übergriffe der israelischen Soldaten zu dokumentieren.

Foto: Cedric Rehman

2008 wurde Machsomwatch mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

Foto: Cedric Rehman

Das verdächtige Objekt ist eine blaue Plastiktüte. Jemand hat sie fallen lassen ausgerechnet im Eingangsbereich zum Checkpoint von Kalandia. Vor dem Drehkreuz, das die besetzten Gebiete von Israel trennt, stauen sich die Wartenden. Doch israelische Soldaten mit Maschinengewehren versperren den Weg: Nichts geht mehr. "Wenn es schlecht läuft, warten die Leute ein paar Stunden, bis sie endlich den Sack mit Orangen in die Luft sprengen", sagt Roni im Wiener Singsang. Roni ist vor mehr als zwanzig Jahren von Österreich nach Israel ausgewandert. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt fällt auf zwischen all den Palästinenserinnen mit Kopftuch. Genau wie Nurit und Tamar, die beide blond sind. Die drei Frauen haben einen weißen Button mit der Aufschrift "Machsomwatch" am Revers – "Checkpointkontrolle" auf Deutsch übersetzt. Seit Jahren kommen sie einmal in der Woche an das Nadelöhr, das täglich 15 000 Palästinenser von der Westbank nach Israel schleust. Kalandia ist ein Loch in der Mauer, die der frühere israelische Ministerpräsident Ariel Scharon nach dem Beginn des Palästinenseraufstands im September 2000 rund um die besetzten Gebiete errichten ließ. Noch ist der acht Meter hohe Betonwall nicht überall fertig gestellt. In Kalandia funktioniert der Grenzverkehr zwischen Israel und den besetzten Gebieten aber bereits so, wie es sich die israelische Regierung wünscht: nur wenige Grenzübergänge erlauben die größtmögliche Kontrolle, über die Palästinenser, die nach Israel kommen. Die Frauen von Machsomwatch besuchen die Checkpoints um die Kontrolleure zu kontrollieren. 400 Frauen aus Israel machen es seit 2001 Tag für Tag so an den verschiedenen Grenzübergängen. Was die Frauen von Machsomwatch sehen und mit der Kamera festhalten, veröffentlichen sie auf ihrer Homepage. "Jeder, der es wissen will, kann erfahren, was an den Checkpoints los ist", sagt Roni.

"Die Warterei ist morgens am Schlimmsten"

Solange das Sprengstoffkommando damit beschäftigt ist, die verdächtige Plastiktüte aus dem Weg zu räumen, haben Roni, Nurit und Tamar Zeit, alte Bekannte zu begrüßen. Wajihd, der Kaffeeverkäufer vom Checkpoint gibt eine Runde aus. Nachmittags füllt er sich wohl selbst gern etwa von der dickflüssigen Masse in sein Mokkaglas. Schon morgens um drei, wenn die Tagelöhner sich anstellen, um pünktlich zur Arbeit auf Israels Baustellen zu erscheinen, braut er eine Koffeinbombe aus Kaffeepulver, Zucker und einem Fingerhut Wasser. "Die Warterei ist morgens am Schlimmsten", sagt er und entblößt kaffeebraune Zähne.

Vielen Grenzübergängern hilft aber auch der stärkste Mokka nicht dabei, in angemessener Zeit auf die andere Seite zu gelangen. Ein Sprengstoffalarm am Morgen kann eine Familie um ihren Tagesverdienst bringen, sagt Roni. "In der Westbank findet ja niemand einen Job."

Nach 24 Studen zur Fahndung ausgeschrieben

Fast niemand. Tamar hat Murat entdeckt. Er hat das Glück als Psychologe in Ramallah zu arbeiten. Sein Pech ist, dass er eine Palästinenserin erster Klasse geheiratet hat, wie er sagt. Seine Frau hat einen israelischen Pass und darf in Jerusalem leben. Murat, der in Wirklichkeit anders heißt, ist dagegen in der Westbank als staatenlos registriert. Jeden Tag, wenn er nachhause zu seiner Familie will, muss er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Damit darf er 24 Stunden mit seiner Frau und seinen Kindern verbringen, bevor er als illegaler Einwanderer zur Fahndung ausgeschrieben wird. "Leben unter der Besatzung heißt nie zu wissen, was am nächsten Tag mit Dir passiert", sagt Roni. Viel kann sie für Murat nicht tun. Ein paar Worte des Mitgefühls, das ist alles. Aber Murat scheint es etwas zu bedeuten. Er winkt den Frauen zum Abschied zu, bevor er wieder in der Masse verschwindet.

Weil sich immer noch nichts tut, ist es nun Zeit, sich um die andere Sorte von Bekannten zu kümmern. Die israelischen Soldaten, die alle junge Wehrpflichtige sind, könnten auf das wöchentliche Wiedersehen mit den Frauen von Machsomwatch sicher verzichten. "Sie nennen uns bestimmt die drei alten Schachteln", sagt Tamar. Eine Schachtel ist sie für die Soldaten gerne. Nur ihre Provokationslust wirkt alles andere als betagt. Tamar zückt die Kamera und fotografiert die Soldaten. "Gleich kommen sie angeschlichen", sagt Tamar und drückt noch mal auf den Auslöser. Ein bisschen Spaß macht ihr der zivile Ungehorsam schon.

Auch für Kranke keine schnellere Abfertigung

Mittlerweile haben die Sprengstoffexperten herausgefunden, dass der Sack Orangen ein leerer Schuhkarton war. Das Drehkreuz öffnet sich wieder. Auch Roni, Nurit und Tamar stellen sich in der Schlange an. Drei israelische Frauen bewegen sich mitten unter Palästinensern vorwärts, die darauf warten, durchleuchtet, kontrolliert und abgetastet zu werden. Im gewissen Sinne geht es gerecht in Kalandia zu. Selbst für Kranke oder Hochschwangere gibt es keine schnellere Abfertigung. "Ein Krankenwagen aus den Palästinensergebieten darf nicht nach Israel fahren", sagt Tamar. Der Patient muss an der Grenze warten, bis ein anderer Krankenwagen aus Jerusalem ihn am Checkpoint abholt. "Wir haben das erlebt mit Schwangeren, die in den Wehen waren." Was sie dabei empfunden hat? "Scham", sagt sie.

Inzwischen ist es dunkel geworden und die Novembernacht ist kühl. Nurit, Roni und Tamar entscheiden sich, zurück nach Israel zu fahren. Sie lockt ein Tee und ein Stück Bakklava, ein in Rosenöl getunkter arabischen Krapfen. Sie wollen Halt machen in Ostjerusalem, also im palästinensischen Teil der Stadt. Ein schier undenkbarer Akt, in einer Stadt in Araber und Juden strikt getrennt voneinander leben. "Die meisten Israelis glauben, dass jeder Palästinenser sich in die Luft sprengt, wenn er einen Juden sieht", sagt Nurit. Sie selbst hat das nie geglaubt. Nurit wollte sich mit dem Bild, das die israelischen Medien von den Palästinensern zeichnen, nicht zufrieden geben. Vor drei Jahren stieß sie zu Machsomwatch.

"Ich bin doch eine Verräterin"

Die Entscheidung ist ihr nicht leicht gefallen. "Ich habe eine Agentur. Natürlich hatte ich Angst wie meine Kunden reagieren", sagt sie. Tamar versteht das. "Meine Schwester redet kein Wort mehr. Ich bin doch eine Verräterin", sagt sie. Tamar hat lange in Thailand gelebt. "Ich habe erst im Ausland gemerkt, was für einer Gehirnwäsche wir ausgesetzt sind", sagt sie. "Unsere jungen Leute bekommen während den drei Jahren bei der Armee Gehorsam eingetrichtert. Deshalb würden sie niemals auf die Barrikaden gehen wie in Frankreich."

Warum rebellieren dann Frauen mittleren Alters wie Roni, Nurit und Tamar? Alle drei haben in ihrem Leben oder in der Familiengeschichte Ungerechtigkeit erlebt. Nurit hat als Diplomatenkind im Ausland Mobbing erlebt. Roni und Tamar kommen aus Familien, die den Holocaust überlebt haben. Ronis Familie litt im deutsch besetzten Österreich. Tamars Großmutter wurde von Auschwitz in ein Arbeitslager nach Deutschland verschleppt. So entkam sie dem sicheren Tod im Vernichtungslager. Die Verfolgung der eigenen Familie durch die Deutschen, öffnet beide für palästinensisches Leid. "Wir waren mal das Volk hinter dem Stacheldraht", sagt Tamar. Ihre Großmutter hat ihr als Kind von einem deutschen Soldaten erzählt. "Er hat den Mädchen auf dem Weg vom Lager in die Fabrik immer eine kurze Verschnaufpause ermöglicht. Das hat meine Großmutter nie vergessen. "Moischele – kleiner Moische- haben ihn die Mädchen genannt, weil er als Deutscher nett zu den Juden war", sagt Tamar. Als sie ihrer Großmutter von ihrer Arbeit in den besetzten Gebieten erzählt hat, hat sie ganz anders reagiert als ihre Schwester. "Sie sagte, dann bist du also ihr Moischele. Und dann habe ich angefangen zu weinen." (Cedric Rehman*, dieStandard.at, 1.12.2010)