Das mit Nelken geschmückte Grab des Schriftstellers. 

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Tolstois Haus in Jasnaja Polijana.

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Anreise & Unterkunft

Anreise via Moskau zum Beispiel mit der Austrian: Jasnaja Poljana ist in einem Tagesausflug zu erreichen und rund 200 Kilometer von Moskau entfernt. Leider wurde die Bahnverbindung in diesem Jahr eingestellt und man muss mit dem Auto anreisen. Alle Infos über das Tolstoi'sche Familienmuseum unter www.yasnayapolyana.ru/deutsch

Grafik: DER STANDARD

Statt eines silbernen Samowars steht ein weißer Plastikwasserkocher auf dem Tisch, und es gibt Beuteltee. Wladimir Tolstoi, Ururenkel des großen Lew Nikolajewitsch, hat auch keinen langen weißen Bart, sondern ist glattrasiert. Kurz, er hat keinerlei Ähnlichkeit mit seinem legendären Vorfahren: rotblonde Haare, schmale Nase, helle Augen – er entspricht so gar nicht dem Bild, das man sich von einem echten Tolstoi macht.

Doch abgesehen von diesen Details ist auf dem Landgut Jasnaja Poljana noch immer vieles so wie vor hundert Jahren, als Lew Tolstoi nach langem Zwist mit seiner Familie zu seiner letzten Reise aufbrach und das Gut, das er von Kind auf an bewohnt hatte, fluchtartig verließ.

Seit 15 Jahren leitet mit Wladimir Tolstoi wieder ein Mitglied der Familie das 200 Kilometer südlich von Moskau gelegene Gut, das inzwischen zum Museum geworden ist. Im ehemaligen Wohnhaus der Tolstois versucht er, alles exakt so zu erhalten, wie es zu Zeiten seines Ururgroßvaters war. "Wer als Tolstoi aufwächst, ist von Kindesbeinen an umgeben vom Mythos dieser Familie", erzählt er bei einem Gespräch in seinem mit Familienfotos und Manuskripten vollgestopften Arbeitszimmer. "Das Erste, was ich als Junge zu lesen bekam, waren die Erinnerungen meines Urgroßvaters Ilja und Tolstois Schwägerin Tatjana Kusnitzka." Bis heute, sagt er, finde er dort die Atmosphäre wieder, die die Familie prägt: "Dieser unbedingte Freiheitswille, die Leidenschaft – aber vor allem die tiefe Überzeugung, dass sich alle Spannungen, die aus solchen Charaktereigenschaften ergeben, mit Liebe und Zärtlichkeit überwinden lassen." Erst gestern Abend, so berichtet Tolstoi, während er nebenbei auf seinem Blackberry-E-Mails checkt, habe es Tränen und Tumult beim Whist gegeben, jenem vornehmen englischen Kartenspiel aus dem 19. Jahrhundert, das in der Familie bis heute gepflegt wird.

Die Tolstoi'sche Leidenschaft fürs Whist ist legendär und hat die Familie schon einiges gekostet. Bereits Lew Nikolajewitsch verspielte als junger Mann das stattliche Haupthaus von Jasnaja Poljana. Es wurde Stein für Stein abgetragen, nur die Nebengebäude blieben stehen – der Hauptgrund dafür, dass der Lebensstil Lew Tolstois bei weitem nicht so prunkvoll war, wie man es von einem Grafen und Großgrundbesitzer zu seiner Zeit hätte erwarten können. Bis heute überraschen die Wohnräume durch ihre bescheidene, sogar spartanische Ausstattung.

Auf den Zustand des alten Gutshauses ist Wladimir Tolstoi stolz. Wer es – vorsorglich ausgestattet mit übergroßen Lederpantoffeln zum Schutz der Holzdielen – betritt, unternimmt eine denkwürdige Zeitreise. Vor allem im Winter: Während sich zu anderen Jahreszeiten oft Besuchermassen durch die Räumlichkeiten schieben, kann man sich nun allein in den enggestaffelten Zimmerfluchten aufhalten. Die alte Standuhr im Flur tickt noch, an den Sprossenfenstern haben sich Eisblumen gebildet. Alle Bücher stehen so in den Regalen, wie Tolstoi sie sortiert hat, und auf seinem Schreibtisch liegen noch Schreibfedern und der schwere grün-gläserne Briefbeschwerer, den ihm 1901 die Arbeiter einer Moskauer Glasfabrik schenkten – aus Anlass der Exkommunikation des kirchenkritischen Schriftstellers. Und auf dem Esszimmertisch steht dann auch der silberne Samowar, den ich im Büro des Ururenkels vermisst habe.

Im Gartenteich ertränken

Tolstois Mitarbeiterin Galina Alexewa führt mich durch die Räume. Der elegant gekleideten Literaturwissenschafterin ist das Haus in den 25 Jahren, in denen sie hier arbeitet, zur Welt geworden. Keine Bodendiele, kein Türgriff, der ihr nicht wichtig wäre – 33.000 Gegenstände von Interesse sind hier versammelt und katalogisiert. Jeder Quadratzentimeter der Räume ist aufgeladen mit Bedeutung, wobei sich Fiktion und Familiengeschichte eigentümlich vermischen. Die in der Ahnengalerie porträtierten Grafen waren Vorbilder für Gestalten aus Krieg und Frieden, die neueren Gemälde und Fotos zeigen das handelnde Personal des Familiendramas von 1910. "An diese Tür klopfte Lew Nikolajewitsch in der Nacht zum 28. Oktober um vier Uhr morgens, um seine Tochter Alexandra über seine Flucht zu informieren", weiß Alexewa zu berichten – mit ihren Detailkenntnisse malt sie ein lebendiges Bild der damaligen Ereignisse: "Auf diesem Bett erholte sich Tolstois Frau Sofja Andrejewna, nachdem sie am Vortag versucht hatte, sich im Gartenteich zu ertränken."

Der Teich ist zugefroren an diesem Tag – und begraben unter einer dicken Schicht Schnee. Es ist ein strahlend heller Wintertag, der auch viele Besucher aus dem Umland nach Jasnaja Poljana lockt, die mit Tolstoi nicht viel am Hut haben. Für sie ist das weitläufige Anwesen mit seinen Wäldern, Feldern und dem Flüsschen Woronka vor allem ein Naturerlebnis. Sie kommen mit Schneeanzügen und Thermoskannen, gleiten auf Langlaufskiern durch die legendäre Birkenallee, derweil sich die Kinder in flachen, strohgepolsterten Pferdeschlitten durch den glitzernden Schnee entlang der Obstgärten kutschieren lassen.

Weg in den Wald

Doch natürlich gibt es auch an diesem Tag Tolstoi-Pilger aus aller Welt – sie nehmen den Weg in den Wald hinter dem Wohnhaus, in dem das Grab des Dichters liegt. Zwölf rote Nelken auf einer sargförmigen Erhöhung im Schnee, dazu etwas Tannengrün: So schlicht, so dramatisch ist es bezeichnet. Zwei russische Damen in langem Pelz und mit riesigen kastenförmigen Fellmützen bekreuzigen sich vor der Grabplatte, ein Herr mit schwarzer Biberpelzmütze und Aktentasche betrachtet die Szene aus diskretem Abstand. Wandert man noch ein Stückchen weiter in den Winterwald hinein, ist nur der knarzenden Lärm der Schneeschritte zu hören. Erst in einem riesigen Birkenhain herrscht Stille. Dann, unmerklich fast, ein leises Flüstern und Knarren, und die dürren Birkenhäupter wiegen sich in einer leichten Brise. Es ist ein zeitloser Moment, wie man ihn wohl nur im tiefen Winter hier erleben kann. Ein Augenblick, in dem man Wladimir Tolstois Bemerkung über die Lebendigkeit und Allgegenwart des Tolstoi'schen Familienmythos gut verstehen kann. (Olaf Tamars/DER STANDARD/Rondo/12.12.2010)