Die Arbeit des Vaters besteht in der Fantasie seiner Tochter darin, die Musiker zu überreden, sich in die schwarzen Schellackplatten pressen zu lassen - womöglich mit Gewalt: Gisela von Wysocki legt in Gestalt ihres Romans "Wir machen Musik" eine klingende Sammlung poetischer Augenblicke und eine sensible Analyse der Zeit vor.

Foto: Gabriele Muschel

Im Havelland erlebt ein Mädchen eine außergewöhnliche Nachkriegskindheit. Es ist ein Kind, das "am Arm der Musik in die Welt der Erwachsenen hineinwächst". Es lebt in einem magischen Reich, das ein mächtiger, heißgeliebter Zauberer regiert. Und es ist dieses Reich der Musik, welches das Mädchen geradewegs in jenes der Literatur führt.

Wir machen Musik, eines der poesie- und reizvollsten Bücher zumindest dieser Herbstprogramme, ist Gisela von Wysockis autobiografischer Roman über die eigene Kindheit im faszinierenden Bann ihres Vaters: eines Pioniers der deutschen Schellackkultur.

Es ist zugleich, wie der Untertitel verrät, die "Geschichte einer Suggestion", und auch die einer kulturellen Emanzipation. Jeden Abend kehrt der Vater, der ganze Welten aus seinen Ärmeln zaubert (und umgekehrt auch darin verschwinden lassen kann, befürchtet das Mädchen!), aus der Stadt heim. Jeden Abend bringt er eine neue schwarze Platte mit, der eine Nadel, ihre Rillen abtastend, die schönsten Musikstücke entlockt. Der Vater muss ein mächtiger Mann sein. Sein Arbeitstag besteht in der Fantasie seiner Tochter darin, die Orchestermusiker zu überreden, sich in die schwarzen Platten pressen zu lassen - möglicherweise muss er dabei sogar Gewalt anwenden!

"In seiner Gegenwart ist es schwer, ein Kind zu sein", erkennt die Tochter. Um ihm zu gefallen, versucht sie, Lieder und Tanzeinlagen einzustudieren. Auch die Mutter singt mit schöner Stimme - ohne den Anforderungen des Vaters genügen zu können.

Das kleine Mädchen, das schon in seinen Kinderspielen, die darauf angelegt sind, die Erwachsenen zu überlisten, vor ihnen zu glänzen und ihnen etwas vorzuspielen, bemerkenswerte Kreativität und (Selbst-)Reflexion aufweist, muss wohl inmitten des Zweiten Weltkriegs geboren worden sein. Es hat schemenhafte Erinnerungen an diesen irrationalen Krieg, der die Eltern zu skurrilen Spielen anstiftete: mitten in der Nacht hastig aufzustehen, um in Windeseile das Nötigste einzustecken und in einen Keller zu laufen, wo man die Nachbarn traf, die aus unerfindlichen Gründen alle genau dasselbe Spiel spielten. Ebenso die Zeit der russischen Besatzung, in der nach Schnaps stinkende Soldaten zu Besuch kommen, um mit wässrigen Augen dem Klavierspiel des Vaters zu lauschen oder ein Kind auf dem Schoß zu halten.

An die elegante Weltläufigkeit der 1920er-Jahre, der die fröhliche Musik des Vaters entstammt, erinnern nur mehr verblasste Fotos und abgegriffene Illustrierte. Frauen wie die Mutter der Ich-Erzählerin sind, ohne zu zögern, aus ihren schicken Pumps gestiegen und in grobe Gummistiefel geschlüpft, sie sind aufs Land gezogen, um mit der Familie und ein paar Hühnern durch den Krieg zu kommen.

Doch Wysockis Roman erzählt mehr über die Musik als über den Krieg - und er unterscheidet sich grundlegend von anderen Geschichten über Kindheiten im Nationalsozialismus. Nicht der Außenwelt des Krieges wird hier nachgespürt, sondern der trotz allen Bemühens paradoxerweise rissig gewordenen Innenwelt des Kindes: Dem Vater gelingt es zwar, die Kindheit seiner Tochter mit Fantasie und Hingabe vor den Eindrücken der Zeitgeschichte zu beschützen, doch von Beginn an entsteht so ein Bild mit Lücken. Kaum sichtbar zwar, doch für ein waches, alles hinterfragendes Mädchen nicht zu übersehen.

Für ein Kind, das 1940 geboren wurde, gab es nie ein intaktes Bild. Während der Vater für die Firma Odeon Schellackplatten produzierte, immer neue Schlager und Varietéstücke für den Markt entdeckte und entwickelte, sind die jüdischen Künstler aus der musikalischen Unterhaltungsbranche verschwunden. Die Tochter bekommt erst nach und nach mit, dass viele Freunde und Kollegen der Eltern, die auf Fotos aus besseren Zeiten im ganzen Haus hängen, nicht mehr in Deutschland leben. Weshalb ist beispielsweise der verehrte Richard Tauber nach England gezogen? Und weshalb, lautet die stumme zweite Frage, die das heranwachsende Mädchen nicht loslässt, ist der Vater hiergeblieben? Das Kind entwickelt den Verdacht, "dass Fragen grundsätzlich niemals die richtige Antwort finden, niemals zu einem Ergebnis führen."

Über die deutsche Schriftstellerin Gisela von Wysocki weiß man heute, dass sie in Berlin Klavier und Musikwissenschaft studierte (insbesondere Prokofjew, Debussy und Alban Berg), ehe sie nach Frankfurt und zur Philosophie wechselte und Schülerin Theodor W. Adornos wurde. In Wir machen Musik wendet sich die heranwachsende Tochter von der Unterhaltungsmusik des Vaters ab und Schönbergs Monodrama Erwartung zu. Die Familie übersiedelt nach Berlin, in "unordentliche, konfuse Oberflächen", ein "Panorama der Ungereimtheit".

An einer Stelle zitiert Wysocki Djuna Barnes, die sagte, wie seltsam es doch sei, dass einem das Leben erst dann so richtig gehört, wenn man es erfindet. Schon das Kind im Havelland erfand Identitäten, Sprachen und Geschichten. In Berlin erfindet sich das bald erwachsene Mädchen als Kind der Literatur und Sprache neu und wird von seiner sanften Erzählerin frohgemut in eine erkenntnisreiche Zukunft geschickt.

Wysocki, die neben zahlreichen Theaterstücken und Hörspielen ein umfangreiches essayistisches Werk schuf, legt mit Wir machen Musik ihre erste längere Prosaarbeit vor: eine klingende Sammlung poetischer Augenblicke, eine sensible Analyse der Zeit - und ein Sprachkunstwerk, in dem sich die Stimme der kleinen Ich-Erzählerin mit jener ihres erwachsenen Alter Ego zu einem wunderbar klaren und eleganten, ebenso analytischen wie märchenhaften Erzählton vermischt. (Von Isabella Pohl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.12.2010)