Wien/Straßburg/Brüssel - "Es besteht kein Änderungsbedarf unserer derzeitigen Praxis" : So reagierte man am Freitag bei Innenministerin Maria Fekter (ÖVP) auf einen Anti-Abschiebungsbescheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall eines afghanischen Asylwerbers, der von Belgien nach Griechenland gebracht worden war und Beschwerde eingelegt hatte.

Der Spruch der EGMR-Richter war seit Monaten mit Spannung erwartet worden, weil der Fall die in der EU-Asylverordnung "Dublin II" geregelten Kriterien beim EU-weiten Umgang mit Asylwerbern prinzipiell sprengen könnte. Besonders Rückführungen nach Griechenland, das mit einer vergleichsweise großen Zahl von Flüchtlingen und mit Finanznot zu kämpfen hat, lässt bei den vereinbarten Standards zu wünschen übrig. Im Fall des Afghanen stellten die Richter eine "unmenschliche und erniedrigende Behandlung" fest und verfügten einen hohen Schadenersatz (siehe Wissen).

Die EU-Kommission äußerte sich Freitag vorsichtig zu möglichen Konsequenzen für die Asylpraxis der EU-Länder. Man könne keine direkten Schlüsse ziehen, darüber müsste erst der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) entscheiden, so der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Er verwies darauf, dass die Kommission einen Vorschlag für eine neue EU-Verordnung vorgelegt habe, die die Regeln verbessern solle. Man hoffe auf Erledigung bis 2012, auch eine Aussetzung von Abschiebungen in besonders belastete Länder sei darin enthalten.

Fekter zeigte sich offiziell ungerührt vom Urteil. "Wir machen mit unserem System von Einzelfallprüfungen weiter wie bisher" , erläuterte ein Sprecher. Nur werde man infolge des europäischen Höchstrichterspruchs künftig in allen Fällen einzeln abwägen, ob eine Verschickung an den Peloponnes vertretbar sei - nicht nur wie bisher bei "besonders vulnerablen" Personen wie Jugendliche oder Frauen mit Kindern.

Auf diese Art werde man bei Asylwerbern, deren Verfahren laut der EU-weiten Dublin-Verordnung eigentlich in Griechenland durchgeführt werden müsste, "verstärkt vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen" , sodass die Betroffenen im Land bleiben können: "Aber für einen prinzipiellen Abschiebestopp besteht kein Grund."

Ein solcher war, befristet bis Jänner 2012, am Mittwoch vom deutschen Innenminister Thomas de Maizière verkündet worden. Ein Dutzend weiterer Dublin-Mitgliedstaaten hat Ähnliches schon vor Wochen oder Monaten beschlossen.

Inoffizielle Milde

Entscheide Österreich ebenso, so könne das "Beispielwirkung" für weitere Länder haben und wäre daher kontraproduktiv, war aus dem Innenministerium inoffiziell zu erfahren: "De facto herrscht in Österreich seit November Griechenland-Abschiebstopp. Aber wir dürfen dieses Land nicht aus der Pflicht nehmen" , hieß es.

"Wenn es in Österreich einen De-facto-Abschiebestopp geben sollte, soll es mir recht sein" , hatte bereits Christoph Pinter vom UNHCR in Wien zum Standard davor gesagt. Der Straßburger Entscheid sei jedoch "viel weiterführender" . Nun sei klar, dass die Lage der Flüchtlinge in Griechenland "menschenrechtlich inakzeptabel ist" . Und der EGMR-Spruch sei künftig "auch auf andere Staaten umlegbar" .

Bei der evangelischen Diakonie bestätigte Flüchtlingsbeauftragter Christoph Riedl, "dass seit Ende Oktober nur mehr sehr vereinzelt Dublin-Rückführungen aus Österreich nach Griechenland stattfinden". Im November habe es sich um zwei, im Dezember um einen Fall gehandelt. Davor hatte der EGMR Griechenlandrücktransporte in mehr als zehn Fällen per Eilentscheidung unterbunden.

In einem Brief an die Bundesregierung hatte Straßburg einen prinzipiellen Stopp der Rückführungen verlangt. Am Freitag wiederholten die Grünen diese Forderung - während die FPÖ von einem "fatalen Signal" sprach. (Irene Brickner, Thomas Mayer, DER STANDARD Printausgabe, 22.1.2011)