Bild nicht mehr verfügbar.

Von hier, seinem angeblichen Heimatort, zog Abraham aus: Das Foto zeigt den teilweise rekonstruierten Stufenturm von Ur in Chaldäa, etwa 300 km südöstlich von Bagdad gelegen

Foto: APA/Krachler

Von dem berühmtesten Auswanderer der Weltliteratur kennen wir nur den Vornamen. Er hieß Abraham, er hatte die Stimme Gottes im Ohr, als er in ein Land zog, das in alter Zeit Kanaan hieß. Die Geschichte ist in der Bibel aufgeschrieben, sie bildet mit ihrer Spannung von Aufbruchsstimmung und Landverheißung, von Migration und Sesshaftwerdung so etwas wie eine Matrix der menschlichen Zivilisation.

Auf Abraham berufen sich heute alle drei großen monotheistischen Religionen, und wenn man die Stationen seiner Wanderschaft auf eine aktuelle Landkarte einträgt, dann wird man bemerken, dass er die gesamte Krisenregion durchmessen hat, die man heute den Nahen Osten nennt.

Die Bibel greift als literarisches Zeugnis auf so alte Überlieferungen zurück, dass sie unweigerlich noch im Blick hat, dass die Menschen eine Idee von territorialer Zugehörigkeit erst lernen mussten. Der Pentateuch, die sogenannten fünf Bücher Mose, bildet das Epos einer ganz frühen Nationalisierung, und hier ist es noch einmal ein Ausgewanderter, in diesem Fall ein unfreiwilliger, der das alles auslöst: Die Josefserzählung enthält nun schon fast alle wesentlichen Momente, die in der Moderne den Völkerverkehr bestimmen. Josef, der Sohn Jakobs, der wiederum Abrahams Enkel war, wurde von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft, machte dort aber eine typische Begabtenkarriere und sorgte durch Familiennachzug dafür, dass seine Großfamilie am Nil eine Weile eine gute, wenngleich arbeitsreiche Zeit an den Fleischtöpfen der reichen Hochkultur hatte.

Das Volk Israel lernte sich erst in der Diaspora so richtig als solches zu begreifen, und mit dem Auszug aus Ägypten und der Wanderschaft in das Gelobte Land bekam die abendländische Geschichte ein ungeheuer wirkmächtiges Modell an die Hand: Die Verbindung von Volk, Erzählung, Territorium und einem eifersüchtigen Gott bot zum ersten Mal eine ganze Reihe von Parametern, die belastbare Unterscheidungen ermöglichten zwischen Israel und seinen Nachbarn. Bis in die Gegenwart hat sich in dieser Hinsicht im Grunde nicht viel geändert. Menschen definieren ihre Zugehörigkeit durch Herkunft, und in dieser Definition spielen Erzählungen in der Regel eine bedeutende Rolle.

Die Josefserzählung enthält auch schon ein entscheidendes Moment vieler Migrationsbewegungen: Sie sind häufig nicht freiwillig. Der Sklavenhandel, der heute als wichtiger Beschleunigungsfaktor in der Globalisierung der Weltwirtschaft gilt, zwang zwölf Millionen Afrikaner in eine Passage über den Atlantik und in ein Fronleben in Amerika. Die kulturellen Prozesse, die mit dieser Unterjochung und späteren Befreiung einhergingen, sind ungeheuer komplex, denn sie enthalten zahlreiche Modelle einer subversiven Aneignung der Herrschaftskultur und einer untergründigen Überlieferung der Ursprungskultur, die zum Beispiel in die komplexe Literatursprache von Toni Morrison ebenso Eingang gefunden haben wie in die Idiome des HipHop.

Wie anders klingt dagegen das Gleichmaß, mit dem Goethe in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten anhebt: "In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine überverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten und mancher Vorteile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte." Die kleine Passage enthält all jene Elemente, die eine auch territorial stabile Identität wünschenswert machen: Man kann die Vorfahren in Ehren halten und kann auf deren Leistungen etwas aufbauen. Zugleich aber weiß der Dichter, dass gedeihliche Entwicklung als solche keinen großen Erzählstoff abgibt, deswegen braucht der Bildungsroman im engeren Sinn und die Literatur im weiteren auf jeden Fall Probleme und Bewegung.

Am Ende seines Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre gibt es ein großes Auswandern, und Goethe nahm damit vorweg, dass im 19. Jahrhundert tatsächlich sehr viele Deutsche nach Amerika gingen. Nachlesen kann man das bei Karl May genauso wie bei Theodor Fontane, aber schon Goethe entwickelte ein Konzept von Weltliteratur, das die nationalen Grenzen überwinden helfen könnte - mit dem Klassiker Goethe lässt sich im Grunde nur eine internationale, west-östliche "Leitkultur" begründen.

Was sich hier erst in Ansätzen erkennen lässt, prägt große Bereiche der Literatur des 20. Jahrhunderts. Denn die vielen Migrationshintergründe in modernen Gesellschaften ergeben nicht nur höchst ausdifferenzierte Diasporagemeinschaften (mit eigenen Videotheken, Gebetsorten, Imbissläden), sondern eben auch vielfache Hybridisierungen. Das bekannteste Buch aus diesem Zusammenhang sind wohl Die satanischen Verse von Salman Rushdie, ein Roman, der zwischen Indien und England spielt, der eine häretische Version der islamischen Offenbarung enthält, in dem das Bollywood-Kino ein wichtiges Orientierungssystem bildet, und in dem vor allem Verwandlungen und Wunder möglich sind, die bildhaft überhöhen, was Menschen auf ihrem Weg zwischen Kulturen abverlangt wird - extreme Identitätsspannungen. Die ehemalige Weltmacht England ist auf dem Feld der Literatur noch immer eine, und man geht sicher nicht fehl, wenn man dies dem Nachleben der kolonialen Beziehungen und den Migrationsströmen zuschreibt, die entlang der alten Handelsrouten verlaufen. Für die frankofone Welt gilt dies ganz ähnlich, nur ist diese stärker auf sich selbst bezogen. Die aktuelle Weltmacht USA ist hingegen in ihrer Literatur immer noch stark auf die europäischen Wurzeln bezogen: Die weißen Männer, die den Betrieb dominieren, von Philip Roth bis Jonathan Franzen, zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie einem traditionellen Erzählen huldigen, das sich an den bürgerlichen Erfahrungskategorien des 19. Jahrhunderts orientiert.

Man könnte das als eine besonders erfolgreiche Form von Kulturexport bezeichnen - was in der alten Welt in Form von Religions- und Nationalkonflikten viele Jahrhunderte die Geschichte bestimmte, findet in Amerika in Form moderner Identitätsdramen tragikomische Nachspiele. Die Geschichte von Josef in Ägypten aber fand in Amerika auch noch ein gewichtiges Echo: Es war der Emigrant Thomas Mann, der in Kalifornien 1943 seine Romantetralogie Josef und seine Brüder fertigstellte, mit der er nicht weniger versuchte, als die Menschen des 20. Jahrhunderts an die Ursprünge allen Erzählens zurückzuführen. Das geht natürlich im Modus der Ironie, also mit einer Selbstdistanz, die sich über die Abgründe aller Gründungsgeschichten ein wenig aufgeklärt hat. (Bert Rebhandl/ DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.1.2011)