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"Invasionen des Privaten" steht für den Versuch, erbarmungslos ins Innere zu marschieren.

Foto: AP/JOHN MCCONNICO

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"Freiheit in Grönland kann man atmen, man kann sie riechen, angreifen, sie ist so real, wie Freiheit nur sein kann." (Anna Kim)

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Ein Grönland-Reiseführer der anderen Art für Reisende und Lesende, die mehr über das Land und seine Einwohner erfahren möchten.

Foto: Anna Kim

"Du siehst grönländischer aus als ich", sagt die Grönländerin Julie zu Anna Kim, Österreichische Schriftstellerin mit südkoreanischen Wurzeln. Kaum hat letztere den Titel für ihr aktuelles Buch gefunden - "Invasionen des Privaten" - wird sie auch schon "aus der Sicherheit des Beobachterpostens mitten in die Handlung" gezogen. Die Reise in den Norden, zum Sehnsuchtsort Grönland, mündet in Kims eigene Biografie. Sie entdeckt in den Inuit, den Ureinwohnern dieses Landes, die Paradigmen der eigenen Existenz.

Kolonialisierung "de wilde"

Am 3. Juli 1721 ließ sich der norwegische Missionar Hanns Egede einige Kilometer in einem sechzehn Meter langen, fünf Meter breiten Haus aus Torf und Stein westlich der Hauptstadt Nuuk nieder. Mit dem neuen Baustoff Holz, einem neuen Bildungskonzept, einer neuen Gesellschaftsordnung und einer neuen Religion, besiegelt durch einen Pakt mit den Kaufleuten Bergens, beginnt die Kolonialisierung "de wilde", der "Wilden" vom Stamm der Inuit. Eine Kolonialgeschichte, die ebenso unerbittlich und erniedrigend für seine Bewohner ablief wie jede andere koloniale Geschichte auf der Erde. Mit der Gründung der Königlich-Grönländischen Handelsgesellschaft wurden die Bevölkerungsgruppen in Kategorien eingeteilt - jede mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Den Verwaltern war die Ehe mit grönländischen Frauen verboten, europäische Waren und Genussmittel aller Art durften nicht an Grönländer verkauft werden - alles zum „Schutz" der Grönländer.

Nur im "natürlichen" Zustand wertvoll

Das Interesse der Dänen an der ungestörten Ausübung der grönländischen Jagd lag an der international steigenden Nachfrage nach Robben-Tran. Durch das Wissen der Einheimischen um die Erlegung der Beute konnte das Unternehmen rentabel gehalten werden. So erklärten die Kolonisatoren das Jagen als den Inuit angeborenen Urinstinkt, der Rest der Kultur wurde - in Kims Worten - "verschrottet". Schritt für Schritt begannen die Kolonisatoren das Fremde mit ihrer Kultur, mit ihren Wertvorstellungen zu füllen. Die Kluft zwischen den beiden Kulturen vergrößerte sich. "Durch die neue Religion und Gesellschaftsform lernen die Inuit, das Eigene zu entwerten, gleichzeitig werden sie durch die in den Kolonien existierenden Regeln dazu gezwungen, in dieser Minderwertigkeit, 'Unterentwickeltheit‘ zu verbleiben, da sie nur in diesem 'natürlichen‘ Zustand wertvoll sind", beschreibt die Autorin.

Sehnsuchtsort

Anna Kim begreift die Stadt Nuuk mit ihren "Wohnsauriern" als "Imitation eines Ideals", als einen Sehnsuchtsort, der aus einem Ideal der "Unzivilisierten" nach der Kultur der Kolonisatoren entstanden ist. Als Grönland 1953 zum gleichberechtigen Teil Dänemarks befördert wurde, mussten seine Bewohner lernen, "mehr dänisch, wirklich dänisch" zu sein, was Kim mit einem Zitat aus der Sammlung Groenlandica belegt: "Die Steinzeitkultur der Grönländer (muss sich) innerhalb weniger Jahre in eine moderne Gesellschaft verwandeln."

Bis vor etwa zehn Jahren gab es grönländische und dänische Kindergartengruppen und Schulklassen. "Dänisch war die Möglichkeit, das Stigma der Herkunft zu überwinden, ein Mittel zur gesellschaftlichen Auferstehung." Anna Kim erkundet die Identitäten der Bewohner Grönlands, untersucht, wo die Grenzen zwischen Grönländischem und Dänischem liegen, wo die Einflüsse ineinander übergehen. Sie berichtet über die Vertreibung der Inughuit-Bevölkerung in Thule 1951 anlässlich der Errichtung eines Militärstützpunktes der USA. Sie folgt Einladungen in die Häuser und Wohnungen einer Künstlerin, einer Studentin, einer Verkäuferin und einer Psychologin. Kim hält Schicksale von Menschen, die "anders" ausschauen als gesellschaftlich erwartet, fest: die in Dänemark aufgewachsene, alle äußerlichen Inuit-Merkmale aufweisende Grönländerin aber auch Kim selbst - offensichtlich Asiatin und sozialisiert in Wien.

Lebensraum der Dämonen und Monster

Im Inlandeis erfährt Anna Kim, "warum Grönland für mich immer schon mehr ein Gefühl war als ein Ort, genauer gesagt, ein Ort, von dem ich schon immer wusste, dass sich dieses Gefühl dort befindet, dort und nicht anderswo, ein diffuses und widersprüchliches Gefühl, eine Mischung aus Fernweh und Heimweh, Sehnsucht und Freiheit, und in diesem Moment erinnere ich mich gelesen zu haben, das Inlandeis sei der Ort, den die Inuit mieden, um jeden Preis: es war der Lebensraum der Dämonen und Monster."

Als Reisende erlebt Anna Kim sich als preisgegeben, ausgesetzt. Sie macht einen Abgrund aus zwischen der wirklichen und der von anderen vermuteten Identität. So kommt sie auch zum Titel ihres Grönland-Essays: "Invasionen des Privaten" steht für den Versuch, erbarmungslos ins Innere zu marschieren, "als gelte es, dieses zu erobern". Und dennoch: "Freiheit in Grönland ist kein Konzept, keine Idee, keine philosophische Theorie, sondern Realität. Freiheit in Grönland kann man atmen, man kann sie riechen, angreifen, sie ist so real, wie Freiheit nur sein kann. Und mit dem Gefühl von grenzenloser Freiheit fühle ich etwas, das ich ebenfalls nur als etwas Flüchtiges kenne, das aber hier länger anhält, Stunden, manchmal sogar Tage - Glück." (Eva Tinsobin/derStandard.at)