Dokumentierte Momente iranischen Lebens: Regisseur und Schauspieler Rafi Pitts in seinem eigenen Film "The Hunter".

Pitts, 43, wurde in Mashad geboren. 1979 emigrierte er nach London, wo er Film studierte. 1991 kam er nach Paris und assistierte u. a. bei Jacques Doillon. Bekannt wurde er durch den Film "It's Winter" (2006) und das Porträt "Abel Ferrara: Not Guilty" (2003).

Foto: Stadtkino

Dominik Kamalzadeh sprach mit Pitts über den Streifen und unterdrückte Filmkollegen.

Wien - "Warum hatten wir 1979 eine Revolution, was glauben Sie?" Mit dieser Frage in einem offenen Brief wollte Rafi Pitts dem iranischen Präsidenten Ahmadi-Nejad im Dezember ein paar Ideale in Erinnerung rufen. Grund seiner Empörung war die Verurteilung seiner Kollegen Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof, die man mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt hatte. Für den 11. Februar, den 32. Jahrestag der Revolution, hat Pitts zu einem zweistündigen Solidaritätsstreik aufgerufen. Er wird auch dabei sein, wenn die Berlinale am Freitagabend Panahis letzten Film, Offside (2006), zeigt - der Regisseur wurde in die Jury geladen, aber erneut an der Ausreise gehindert.

Bereits 2010 hatte Pitts in Berlin seinen Film The Hunter präsentiert, ein Rachedrama um einen Mann, dessen Frau und Tochter bei Demos in Teherans ums Leben kommen. Der so schonungslose wie bildermächtige Film über die Willkür eines politischen Systems hat im Jahr der Revolutionen in der arabischen Welt nichts an Aktualität eingebüßt.

Standard: Die Unruhen rund um die Präsidentenwahlen im Iran sind in Ihrem Film auf sublime Weise, meist nur auf der Tonebene, präsent. Wie ergab sich das?

Pitts: Ich stand als Schauspieler vor der Kamera, ging selbst durch diese Geschichte hindurch. Umso aufrichtiger musste ich sein - ich hatte ja keinen Regisseur. So war es ganz naheliegend, Elemente meines Lebens in den Film zu übernehmen. Und der Sound der Demos war für mich ein Teil der Landschaft. Ich verschlang damals alle Nachrichten über den Gang der Proteste. Ihren Verlauf habe ich nicht vorhergesehen. Ich konnte allerdings die Spannung spüren, in mir selbst: Man realisiert, dass man nicht alleine ist.

Standard: Eigentlich ein dokumentarischer Ansatz.

Pitts: Ja, man dokumentiert Momente des Lebens. Als ich die jungen Leute auf den Demos sah, ihre Parolen hörte, da wollte ich sichergehen, dass sie bei mir bleiben. Das Seltsame daran ist, dass diese Dinge alle zufällig zusammenfielen. Dies war ein starker emotionaler Moment für mich.

Standard: Sie sagten, dass Sie den Film nicht politisch verstanden wissen wollen - The Hunter wäre aber auch ohne die Proteste sicher ein düsterer Film geworden.

Pitts: Ich meinte damit: Politik ist eine eigene Sache. Als Film wird das schnell flach. Man kann den Film in dem Sinn politisch verstehen, dass er sich für die Lage der Menschen interessiert. Natürlich gibt es bestimmte Gefühle, Sensibilitäten. Sie werden zu Farben, wenn Sie so wollen. Aber ich glaube nicht an politische Parteien.

Standard: Wie sieht dann die Rolle eines gegenwärtigen Filmemachers im Iran aus? Jafar Panahis Schicksal zeigt ja, dass man sehr schnell als Regimegegner gilt?

Pitts: Das ist eben so falsch an der Politik. Jafars Lage macht mich wütend und traurig. Was haben sie davon, dass sie ihn nicht arbeiten, ihn nicht ausreisen lassen? Der Irrsinn dieser Leute ist: Sie glauben tatsächlich, sie könnten den Lauf der Dinge anhalten. Sie können gar nichts stoppen. Manchmal beschleunigt man Dinge nur, wenn man sie anhält.

Standard: The Hunter nimmt deutlich am amerikanischen Kino Maß - wie kamen Sie auf die Figur des Jägers?

Pitts: Ich sehe den Film als neorealistischen Western. Dafür musste es einen Shoot-out geben. Es galt also eine Konstruktion zu finden, die die Motivation der Figur glaubwürdig macht - noch bevor der Frau und der Tochter etwas zustößt. Dass Ali Jäger ist und deshalb eine Waffe trägt, empfand ich als stimmig. Er lebt allerdings in einem Hochhaus neben der Autobahn. Eine Geschichte benötigt also viele Ebenen, damit sie nicht flach erscheint.

Standard: Es wird nicht unbedingt linear erzählt, eher mosaikartig. Wollten Sie die Rache im allgemeineren Sinn verstanden wissen?

Pitts: Das war ein schwieriger Prozess. Ich glaube, man kann den Film auf zweierlei Arten verstehen: Entweder gibt es diesen Mann, Ali, mit Frau und Tochter, die eines Tages verschwinden; oder aber die beiden sind schon längst tot. Die Szene in der Autowaschanlage wäre dann eine Art Begräbnisszene - warum wäre sie sonst da? Solche Suggestionen habe ich zu geben versucht ...

Standard: Das Zweideutige liegt Ihnen also?

Pitts: Ja, auch als Zuschauer genieße ich solche Filme, die verschiedene Gestalten annehmen. Zu einem Cutter meinte ich einmal: Was wäre, wenn wir einen Film machen, der weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart noch in der Zukunft spielt? Ich bin besessen von dieser Idee von Tiefe: der Tiefe des Raums, der Bedeutung und der Gefühle.

Standard: Eindrucksvoll sind auch die Stadtansichten von Teheran, das menschenleer, fast geisterhaft erscheint. Wie war das möglich?

Pitts: Diese Teile von Teheran sind gar nicht so bevölkert. Wer spaziert schon nahe an Highways herum? Die Gegend, in der Ali lebt, ist auch deshalb interessant, weil es da viele Sozialbauten gibt. Das Unglaubliche daran ist, dass diese Gebäude wie ein Flur für die Autobahn gebaut wurden - der Lärm der Straßen kann nirgendwo anders hin. Die Menschen leben also eigentlich auf dieser Autobahn. Ich frage Sie: Worauf würden Sie als Erstes schießen?

Standard: Im zweiten Teil des Films ändern Sie die Gangart. Er wird zum Kammerspiel im Freien, Fronten lösen sich auf. Wie sehen Sie das Verhältnis der beiden Hälften zueinander?

Pitts: Zuerst schießt Ali auf zwei Polizisten, dann trifft er auf zwei Polizisten. Im zweiten Teil steckt viel Ironie: Da geht es um drei kleine Kreaturen in einer großen Landschaft, die fast ein wenig absurd erscheinen. Hinter jeder Uniform steht auch ein Individuum, das sich nicht unbedingt frei entscheiden konnte. Ich wollte mit dieser Umkehrung die komplizierte Situation in meinem Land veranschaulichen, in dem jeder denkt, dass er allein recht hat. Wir verstehen, warum Ali schießt - aber deshalb ist das ja nicht richtig.
(DER STANDARD, Printausgabe, 11.2.2011)