Der evangelisch- lutherische Bischof Michael Bünker (li.) und der Vorsitzende des Zentralrats der Konfessionsfreien, Heinz Oberhummer.

Foto: Der Standard/Urban

Michael Bünker: "Keine Kippa, kein Kopftuch, kein Kreuz? Ich glaube, eine Gesellschaft hält mehr an Religion aus."

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Heinz Oberhummer: "Mein Problem mit Religion beginnt dort, wo die Kirchen die Konfessionsfreien diskriminieren."

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Standard: Herr Bünker, Sie und Ihre Mitstreiter, die einen verpflichtenden Ethikunterricht für all jene Schüler fordern, die keinen Religionsunterricht besuchen, sagen, kein Schüler in Österreich soll zur Matura kommen, ohne eine Grundausbildung in religiösen und ethischen Fragen zu bekommen. Was wäre denn der Makel solcher Maturantinnen und Maturanten?

Bünker: Die religiöse Dimension ist eine wesentliche, etwas, das den Menschen insgesamt ausmacht. So wenig man Menschen nur auf Religion festlegen kann, so sicher ist es, dass die Auseinandersetzung mit den letzten, den großen Fragen - Kardinal König hat da gern zitiert: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Sinn in meinem Leben? - stattfinden und es die Möglichkeit der Begegnung mit gelebter Religion geben muss. Darum ist das etwas Wertvolles, das auch durch die Schule gewährleistet sein soll.

Standard: Herr Oberhummer, sind Sie und die Konfessionsfreien generell gegen Ethikunterricht oder nur gegen Ethik als "Strafunterricht"?

Oberhummer: Gegen Ethikunterricht kann kein vernünftiger Mensch was haben. Was ist Ethik? Ein großes Teilgebiet der Philosophie, das Kriterien festlegt, was ist gut, was schlecht. Immanuel Kant hat gesagt: Wie soll ich handeln? Das ist Ethik. Die normale Ethik beruht auf Vernunft. Religiöse Ethik beruht auf dem Glauben einer göttlichen Offenbarung. Das ist etwas ganz anderes. So, wie der Ethikunterricht jetzt geplant ist, als Strafsanktion für die Schüler, die sich von Religion abmelden oder von ihren Eltern abgemeldet werden oder konfessionsfrei sind, und nicht für alle, kann's nicht sein. Die melden sich von Religion ab und müssen dann in Ethik gehen, wo sie dieselben Religionslehrer wieder treffen?! Der Hauptteil der Lehrenden sind Religionslehrer, die in Religionsethik ausgebildet wurden, nicht in Ethik. Ich habe größte Bedenken, dass man jetzt auf die Konfessionsfreien Religionslehrer loslässt. Ethik sollen Philosophen unterrichten.

Standard: Kann man Religionslehrer auf Konfessionsfreie "loslassen", um sie Ethik zu lehren?

Bünker: Natürlich ist für qualitätvollen Ethikunterricht eine adäquate fachliche und didaktische Ausbildung an Hochschulen oder Universitäten nötig. Die kirchliche Pädagogische Hochschule Wien-Krems hat eine Kooperation mit dem Institut für Philosophie an der Uni Wien. Ich meine, wer diesen Hochschullehrgang absolviert hat, soll zum Fach Ethik berechtigt sein. Was die religiöse Einstellung von Lehrerinnen und Lehrern betrifft, ist das ein weites Feld. Die Konfessionsfreien sind ja auch mit Lehrern konfrontiert, die Mathematik unterrichten und gläubige Christenleute sind.

Oberhummer: Aber Sie müssen Mathematik studieren - und wir fordern, dass sie für den Ethikunterricht Philosophie studieren und nicht irgendeine Religion.

Bünker: Wenn Sie das so engführen, muss man sagen, es gibt ja den philosophischen Einführungsunterricht in der AHS-Oberstufe, dann sollte der doch der Ethikunterricht sein.

Oberhummer: Genau dafür sind wir! Das kostet kein Geld. Drastisch gesprochen: Religiöse Leute mit den Missbrauchsfällen, ihren veralteten Sexualvorstellungen, den autoritären Strukturen, der Diskriminierung von Frauen sind die ungeeignetsten Leute, Ethikunterricht zu halten. Das betrifft nicht so sehr die evangelische Kirche, die ist viel moderner, fortschrittlicher, aufgeklärter. Aber Sie geben sich in der Frage Ethikunterricht her als Feigenblatt für die Katholiken.

Standard: Ist es plausibel, in Gesellschaften, die immer multikultureller und multikonfessioneller oder konfessionsfrei werden, ausgerechnet über Grundfragen des Zusammenlebens getrennt nach Konfession nachdenken zu lassen?

Bünker: Im Religionsunterricht wird viel kooperiert. Wenn man so will, ist der Religionsunterricht, das traue ich mich für Österreich und Deutschland zu sagen, eigentlich die Avantgarde der religiösen und interreligiösen Begegnung.

Oberhummer: Es ist noch gar nicht so lange her, dass evangelische Kinder in den katholischen Unterricht geschickt wurden. Es hat sehr lange gedauert, bis sie das Recht auf eigenen Religionsunterricht erkämpft haben. Jetzt machen Sie mit den Konfessionsfreien genau das Gleiche. Ich habe eine E-Mail bekommen, da schreibt einer: Ich bin gläubig, möchte aber nicht, dass die Konfessionsfreien diskriminiert werden. Das ist für mich ein echter Christ.

Standard: Lassen Sie uns die Grenze zwischen Freiheit zur und von Religion ausloten. Wie viel Religion ist für Sie als Konfessionsfreien im öffentlichen Raum akzeptabel?

Oberhummer: Ich feiere genauso Weihnachten wie alle. Warum soll man diese Traditionen nicht weiterführen? Ich bin kein Kirchenhasser. Mein Problem mit Religion beginnt dort, wo die Kirchen die Konfessionsfreien diskriminieren und sich Privilegien holen. Aber natürlich leben wir in einer christlichen oder abendländischen Kultur.

Bünker: Also kein Problem mit Gipfelkreuzen?

Oberhummer: Überhaupt nicht. Ich habe heuer im Sommer selber ein Gipfelkreuz aufgestellt. Diese Kreuze sind Tradition. Aber das Kreuz im Klassenzimmer ist eindeutig ein Machtsymbol. Es zeigt, hier bin ich der Herr - und das widerspricht meinem Gefühl für Konfessionsfreie.

Bünker: Das Aufhängen des Kreuzes hängt von der Zahl ab. Es ist also nicht so gedacht, dass diejenigen, vor allem wenn sie die Mehrheit hätten und nicht einer christlichen Kirche angehören, damit irgendwie dominiert werden.

Oberhummer: Aber die Minderheit ist doch auch zu schützen!

Bünker: Die Frage ist ja: Kann das Religionsfreiheitsrecht des Einzelnen wirklich bedeuten, dass der öffentliche Raum vollkommen frei von religiösen Symbolen gemacht wird? Das versucht man zum Teil, wenn man sagt, es darf keine Kippa, kein Kopftuch, kein Kreuz getragen werden, etwa in französischen Schulen. Ich glaube, eine Gesellschaft hält mehr an Religion aus. Wenn sie damit vernünftig umgeht und das unverkrampft sieht, dann muss das überhaupt nicht Anlass zu Konflikten geben.

Oberhummer: Wenn's Brauchtum ist, ja. Ich gehe auch in Griechenland in die Akropolis und schaue mir den schönen Tempel an. Deswegen glaub ich auch nicht an den Zeus. Das ist ein Kulturdenkmal. Auch das Christentum hat wunderbare Kulturdenkmäler und Musik hervorgebracht. Auch das Kopftuch ist für mich kein Problem. Jeder soll anziehen, was er will. Bei uns tragen die Bäuerinnen ja auch ein Kopftuch.

Standard: Wie viel Religion brauchen moderne Gesellschaften? Es gab ja die Idee, Religion sei etwas Vormodernes, das sich mit fortschreitender Säkularisierung irgendwann erübrigt. Es kam anders.

Bünker: Die Säkularisierungsthese hat sich als nicht richtig herausgestellt. Der französische Religionssoziologe Gilles Kepel nennt das La revanche de Dieu, die Rache Gottes. Spätestens seit 11. September 2001 sagt man: Religion ist wieder da, und zwar mit ihrem hässlichen, fanatisierenden, fundamentalistischen, gewaltbereiten Gesicht, das Religion ohne Zweifel hat, da braucht man nur in die Geschichte des Christentums schauen. Europa ist da die große Ausnahme mit einer Zunahme der Säkularisierung.

Oberhummer: In Ländern, in denen die Schere zwischen Arm und Reich sehr groß ist, wie in den USA oder der Dritten Welt, ist Religiosität sehr verbreitet. Wo das ziemlich gerecht ist, etwa in den skandinavischen Ländern, nimmt die Religion ab und die Säkularisierung zu. Ich verstehe das auch. Wenn's jemandem schlecht geht, muss man den aufs Jenseits vertrösten. Wenn's allen gleich gut geht, dann braucht man das Jenseits nicht.

Bünker: Die europäischen Gesellschaften sind zunehmend von Migration geprägt, und Religion ist für viele Zuwandernde der Identitätsanker, das portative Heimatland. In diesem großen Problembereich, was hält eine Gesellschaft zusammen, muss Religion angemessen berücksichtigt werden. Man darf die Menschen aber auch nicht nur über ihre Religion definieren. Wir sehen das ja in Österreich: Aus den Gastarbeitern der 60er-Jahre wurden die Ausländer, dann Migrantinnen und Migranten, und jetzt sind wir bei den Muslimen gelandet. Es wird einfach das religiöse Etikett draufgepickt und gesagt, alle Probleme sind geklärt - also eine Art Religionisierung der politischen Auseinandersetzung. Da muss man auch aus religiöser Sicht sagen: Zurückhaltung. Es braucht die klare Unterscheidung zwischen Politik und Religion. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, Printausgabe, 19./20.2.2011)