Ein Syndrom geht um in der Literatur, das Nutella-Syndrom: "seien sie still, da schläft unser kreditkartenkind, das träumt jetzt bestimmt. es träumt vom gesunden kapitalismus."

Aber siehe da, nicht in jedem Dialog, auf dem Kapitalismuskritik draufsteht, ist Kathrin Röggla drin: ",Ich finde das nicht richtig von uns, Basilisk.' 'Was denn?' 'Dass wir feiern, während es dem Kapitalismus so schlecht geht.'" Der hier in Clemens Bergers Roman Das Streichelinstitut von der hübschen wie klugen Philosophielektorin Anna mit "Basilisk" Bekoste heißt im Berufsleben Severin Horvath und im "richtigen Leben" Sebastian, und der denkt vorzugsweise über die Unmöglichkeit eines richtigen Lebens im falschen nach und bemüht auch sonst allerhand diskursive Versatzstücke; da darf es neben Adorno auch schon mal deutschsprachiger Mainstream-Pop à la Wir sind Helden sein.

Irgendwann beschließt Sebastian, dass auch für ihn die Zeit des Wollenmüssens gekommen ist, und gründet das Streichelinstitut Caress_Caress in der Mondscheingasse, mitten im Zentrum jenes innerstädtischen Biosphärenparks, dessen Zuzüglern beharrlich unterstellt wird, sie würden den ganzen Tag Latte macchiato schlürfen und die Mieten in die Höhe treiben.

"Neubau, das war der Spielplatz der alternativen Bürgerkinder, welche die Grünen zur stärksten Partei im Bezirk gemacht hatten, eine Oase der Toleranz und Aufgeklärtheit. Es war haarsträubend, an solch einem Ort beschäftigt zu sein. Ich gab es bald auf, mit meinem Auto einen Parkplatz finden zu wollen, nach zwei, drei Wochen stundenlangen Fahrens im Kreis kapitulierte ich vor der radfahrerfreundlichen Politik und zwängte mich in überfüllte U-Bahnen, (...). Abgesehen von den ohnehin spärlichen Parkplätzen gab es so viele Behindertenparkplätze, dass ich kaum glauben mochte, es gebe so viele Behinderte in einem einzigen Bezirk."

Es kommt, wie es kommen kann: Alsbald gedeiht Caress Caress zu einem florierenden Unternehmen, eine illustre Klientel stellt sich ein und an, um von Severin für 75 Euro 45 Minuten lang gestreichelt zu werden - selten mehr und niemals weniger. Auch wenn Sebastian alias Severin nicht der Erste ist, der die "desillusionierte Mittelschicht, das traurige, kulturell deklassierte Bürgertum", die "Lumpenbourgeoisie" ins Visier nimmt, so gelingt ihrem Erfinder doch das Kunststück, ein vermeintlich sattsam porträtiertes Soziotop einen ganzen, obendrein recht umfangreichen Roman lang so hinreißend zu beschreiben, dass man zumeist amüsiert, zwischenzeitig erstaunt und (fast) nie gelangweilt ist.

Aber Bergers Roman ist mehr als eine pointenreiche Milieustudie. Er entkommt der drohenden Ermattung im redundanten Skurrilitätenreigen weniger durch die ostentativen Einsprengsel von Gelehrsamkeit (ein Intertextualitätsquiz zum Text wäre allemal abendfüllend) als vielmehr durch jene Konstruktion, die gemeinhin als Dreieck bezeichnet wird. Da gibt es neben Anna noch die nicht minder hübsche wie kluge Észter, die Sebastian liebt und die er doch nicht lieben kann: ",Ich kann nicht, Észter.' 'Verstehe.' Sie setzte sich auf und beugte sich über mich. Ihre Haare hingen in Strähnen vom Kopf, sie waren verklebt von Tränen und Schweiß. Die Spitzen kitzelten mein Gesicht, ich lachte leise, Észter schüttelte den Kopf, die Haarspitzen wurden zu Nadeln, kleine Stiche, mein Gesicht wurde immer feuchter."

Der Abspann ihrer ersten Liebesnacht am Balaton markiert Anfang und Ende einer unmöglichen Liebe. Zugegeben, das klingt wenig spektakulär, aber wie es dem Autor gelingt, aus dieser Konstellation integre Poesie zu entwickeln, verdient jede Anerkennung, zumal es nicht allzu häufig vorkommt, dass ein im Grunde dem konventionellen Erzählen verpflichteter Schriftsteller der jüngeren Generation es zuwege bringt, jeglichem Verdacht auf Affirmation zu entkommen. Der geborene Burgenländer Berger entkommt überdies der "pannonischen Krankheit" mit den Mitteln des literarischen Eigensinns und hat so seinem Protagonisten Entscheidendes voraus: "Dort, woher ich komme, gibt es zwei Sorten von Menschen. Die einen leiden an der pannonischen Krankheit, ohne an ihr zu leiden, bevor es zu spät ist, was ihnen etwas Lustiges, Menschliches, Tragikomisches verleiht, während die anderen ihr mit allen Mitteln zu entkommen trachten. Alle Mittel sind alle Mittel der Assimilation, ob am Bau oder im Büro: Man will es allen recht machen und auf die Schulter geklopft bekommen, weil man der Krankheit der Ebene (die ich der Krankheit der Berge bei weitem vorziehe) entkommen ist."

Clemens Berger hat einen formidablen Roman geschrieben, den es zu lesen und zu feiern gilt, während draußen immer noch die Dunkelziffer tobt und es dem Kapitalismus schon wieder besser zu gehen scheint. (Josef Bichler, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 19./20. Februar 2011)