Mit dem Leipziger Buchpreis verbinden mich schöne, weit zurückreichende Erinnerungen. Ich war schon einmal bei der Verleihung zugegen, das war 1994. In jenem Jahr erhielt mein Freund Ryszard Kapuoeciñski die damals zum ersten Mal verliehene Auszeichnung. Mir fiel die Aufgabe zu, seine Dankesworte zu übersetzen. Ich glaube mich sogar zu erinnern, dass ich vor siebzehn Jahren hier in Leipzig seine Rede vortrug, allerdings nicht im Gewandhaus, sondern in einem kleineren Rahmen. Kapuoeciñski sprach vom Aufbau eines neuen Europas, der mit einer Erweiterung seiner Grenzen einhergehen müsse, und er warnte davor, unseren Kontinent gegen die übrige Welt abzuschotten und in eine Festung verwandeln zu wollen.

Unter Europa, so Kapuoeciñski damals, dürften wir nicht nur Paris, Köln und Rom verstehen - und nicht nur Budapest, Prag und Warschau, würden wir aus heutiger Sicht hinzufügen. Selbstverständlich gehören auch Kiew dazu, Lemberg, Iwano-Frankiwsk, das früher Stanislawiw, Stanislawów oder Stanislau hieß, und Charkiw, ebenso wie Chiºinau, die Hauptstadt der Republik Moldau, die belarussische Metropole Minsk und Kapuoeciñskis Geburtsstadt Pinsk. Alles Orte, untrennbar verbunden mit Europa, auch wenn sie infolge oft absurd anmutender Peripetien der Geschichte nun außerhalb jener Grenzen liegen, die manche für den neuen Limes halten, den es gegen fremde Barbaren zu verteidigen gilt.

Als wir uns 1994 in Leipzig trafen, sprach Kapuoeciñski mit mir über sein Vorhaben, ein Buch über Pinsk zu schreiben. Wir saßen bei einem Glas Wein in einem Lokal, als er von Pinsk und Bialorus, Belarus, Weißrussland zu erzählen begann. Er sprach voll Wärme, ja Nostalgie vom Land seiner Kindheit, von dessen atemberaubender Schönheit, von den schier endlosen Sümpfen und vielen Flussläufen, die in der Vorstellung eines Kindes die ärmliche Provinzstadt mit der ganzen Welt verbanden. Es sei schade und eine Schande, so klagte er, dass wir so wenig von dieser nahen und doch so fernen Welt wüssten, von den Menschen, Weißrussen, Juden und Polen, und ihrem Zusammenleben, von ihrer Kultur und Geschichte. Mit dem Buch über Pinsk wollte uns Kapuoeciñski die Region näher bringen, unser Interesse und Verständnis für sie wecken. Sein früher Tod hat das verhindert.

Seit unserem damaligen Gespräch hat sich die Situation natürlich verändert. Das freie und wohlhabende Europa hat seine Grenzen nach Osten verschoben, aber verschwunden sind diese Grenzen nicht. Im Gegenteil. Die neuen Grenzen, die unseren Kontinent zerschneiden, werden nicht weniger streng bewacht als zu Zeiten des Kalten Krieges, allerdings stellen jetzt wir die unerbittlichen Wächter. Diesmal sind wir es, die Bewohner der westlichen Länder, die sich hinter raffiniert gesicherten Grenzen verschanzen, um die anderen, die weniger Bemittelten, die weniger Freiheit genießen als wir, draußen zu halten. Draußen vor den Grenzen des neuen Europas.

Dieses Verdikt gilt auch für unsere Nachbarn, mit denen uns so viel verbindet. Etwa für Belarussen, Ukrainer, die Bewohner der Republik Moldau oder Serben. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass manche von ihnen Nachfahren unserer Landsleute sind, die vor nicht einmal hundert Jahren in einem gemeinsamen Staat mit uns lebten, den wir heute, ich spreche als Österreicher, so gern nostalgisch verklärt sehen. Was die Enkel und Urenkel unserer einstigen Mitbürger angeht, sind wir weniger gefühlsselig. Wenn sie auf die Idee kommen, uns besuchen zu wollen, müssen sie sich peinliche Befragungen gefallen lassen, um dann in vielen Fällen erst recht abgewiesen zu werden, meist ohne ersichtlichen Grund. Bedürftige Verwandte und Nachbarn will man sich vom Leibe halten, Armut wirkt störend, zudem könnten sie unsere Sicherheit und Ordnung oder zumindest unseren Wohlstand gefährden.

Diese abwehrende Haltung schlägt sich auch in unserem Verhältnis zu diesen Ländern und Kulturen nieder. Zwar ist es gelungen, manche weißen Flecken auf unseren literarischen Landkarten zu tilgen. Schriftsteller, die noch vor ein paar Jahren nur Eingeweihten bekannt waren, genießen heute im deutschen Sprachraum die ihnen gebührende Anerkennung, zum Beispiel Juri Andruchowytsch, Oksana Zabuzhko oder Serhij Zhadan, um ein paar ukrainische Autoren herauszugreifen. Das Buch des belarussischen Autors Artur Klinau über seine Heimatstadt Minsk wurde mit großem Interesse aufgenommen, und dasselbe wünsche ich seinem Landsmann Alhierd Bacharevic, dessen Roman Die Elster auf dem Galgen vor kurzem in deutscher Übersetzung erschien. Eine ebenso aufschlussreiche wie beklemmende Lektüre.

Zeitschriften wie "Osteuropa", Internetforen, einzelne Verlage und Übersetzer leisten eine großartige Vermittlungsarbeit, aber nach wie vor entgeht uns viel. Weil wir zu wenig wissen, zu wenig lesen, weil zu wenig übersetzt wird, weil die meisten Verlage zu wenig wagen, weil es noch mehr Förderungen brauchte, es gibt zahlreiche Gründe, warum die Situation so ist, wie sie ist, nämlich unbefriedigend. Nicht nur für unsere Freunde, denen die ihnen zustehende Beachtung versagt wird, sondern auch für uns, die wir so viel Interessantes, Aufregendes, Schönes, auch Beängstigendes, den Atem Abschnürendes versäumen, so viele lesenswerte Autoren und Bücher nicht wahrnehmen.

Dasselbe gilt für die politischen Vorgänge in jenen Regionen, die wir leichtfertig der anderen, inferioren Seite Europas zurechnen. Wir haben uns damit abgefunden, dass Werte wie die Freiheit des geschriebenen und gesprochenen Wortes, freie Wahlen, die Freiheit, seine Meinung ungehindert zum Ausdruck zu bringen, in manchen europäischen Ländern keineswegs selbstverständlich sind. Etwa in Belarus. Seit Dezember 2010 sitzen dort oppositionelle Politiker und Teilnehmer friedlicher Demonstrationen in Haft, einige wurden in offensichtlich gelenkten Prozessen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Präsidentschaftskandidat und Schriftsteller Vladimir Nekljajev wurde während einer Demonstration von Sicherheitskräften zusammengeschlagen und schwer verletzt, nach mehrwöchiger Haft wurde er entlassen - und unter Hausarrest gestellt.

Zu den ersten Opfern der staatlichen Willkür zählen auch diesmal Künstler und Schriftsteller. "In Belarus wird heute jeder Versuch, anders zu denken, brutal unterdrückt", schreibt mir mein Freund Alhierd Bacharevic. "In der Gesellschaft herrscht eine Paranoia, wie wir sie in der jüngeren Geschichte unseres Landes noch nie erlebt haben." Bacharevic lebt zurzeit in Deutschland, an eine Rückkehr nach Belarus ist unter den gegebenen Umständen nicht zu denken. Die Russisch schreibende belarussische Autorin Svetlana Aleksijevic wandte sich vor kurzem in einem offenen Brief an den Diktator. Darin heißt es: "Wir sind wieder in den Dreißigerjahren gelandet. Es fehlt nicht mehr viel, und wir werden wieder Schauprozesse haben." Svetlana Aleksijevic erhielt 1998 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, sie lebt seit Jahren im Ausland.

Belarus ist ein Schandfleck für Europa, aber auch in anderen Ländern erleben die Demokratisierungsprozesse dramatische Rückschläge. Nach der Orangen Revolution haben wir den Aufbruch der Ukraine mit Bewunderung verfolgt, das kam auch der Literatur zugute. Neben bekannten Autoren wie Juri Andruchowytsch, Oksana Zabuzhko oder Andrej Kurkow tauchten neue Namen auf: Jurko und Taras Prochasko, Natalka Snyadanko, Lubko Deresch, um nur ein paar zu nennen.

Inzwischen hat das Interesse wieder nachgelassen, obwohl die politische Situation sich zugespitzt hat. Oder vielleicht gerade deswegen? Auch in der Ukraine findet seit dem Machtwechsel eine systematisch vorangetriebene Aushöhlung der Demokratie statt. Die Opposition, Medien und unabhängige Künstler und Kulturschaffende werden, ähnlich wie in Belarus, unter Druck gesetzt. So wurde eine bekannte Autorin, Trägerin der höchsten staatlichen Auszeichnung für Literatur, des Taras-Schewtschenko-Preises, von der Miliz und Organen des Justizapparates drangsaliert und bedroht, von der Generalstaatsanwaltschaft wurde sie, ihren eigenen Worten zufolge, förmlich "umzingelt", nur weil sie in einem Buch eine Bemerkung über ein Denkmal für den Großen Vaterländischen Krieg in Kiew gemacht hatte, die in manchen Ohren despektierlich klang.

Ein kommunistischer Abgeordneter empörte sich und setzte eine regelrechte Lawine von Einschüchterungsmaßnahmen in Gang. Die Autorin heißt Maria Matios, sie ist in der Ukraine sehr bekannt, doch das konnte sie vor der staatlich gelenkten Hasskampagne nicht schützen. Die bizarren Vorgänge fanden sogar im deutschen Sprachraum Beachtung, obwohl die Bücher der wunderbaren Autorin bis heute nicht übersetzt sind. Was für ein Versäumnis! Was mit Matios geschah, ist kein Einzelfall. Alle meine Freunde in der Ukraine berichten von einer Rückkehr der Angst, einer Rückkehr der staatlichen Willkür, der Bespitzelung und des Misstrauens. Als ich im September vorigen Jahres Juri Andruchowytsch in Berlin traf, erschien er mir niedergeschlagen, bisher hatte ich ihn stets optimistisch und zuversichtlich erlebt. Es sei erschreckend, so sagte er, wie rasant sich die Rückkehr zur Diktatur vollziehe - und wie wenig der Westen diesen Prozess beachte. Als er mir vor wenigen Wochen schrieb, klang er noch düsterer: "Man spürt täglich, wie die Gewalt näher kommt: Drohungen, Einschüchterungen, Verhaftungen, Blut, Waffen, Morde, Attentate." Und warnend fügte Juri hinzu: "Wenn Europa eines Tages in der Ukraine so etwas wie einen zweiten Balkan erlebt, sollte sich keiner wundern."

Meine Freundin Natalka Snyadanko, eine junge Autorin aus Lviv, sieht die Lage ähnlich pessimistisch. Sie bekomme zunehmend zu spüren, wie im Westen das Interesse an der Ukraine nachlasse, teilte sie mir kürzlich mit. Das empfinde sie als enttäuschend: "Ignoranz statt Unterstützung in schwierigen Zeiten ist nichts Neues, aber ungerecht ist es schon." Politisch hat Europa nicht viel erreicht, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Umso mehr liegt es an uns Intellektuellen, Autoren, Übersetzern, Verlegern, Journalisten, die Bedenken und Sorgen unserer Freunde auf der anderen Seite Europas zu zerstreuen, umso mehr müssen wir uns bemühen, ihnen und ihren Werken alle Türen zu öffnen. In unserem eigenen Interesse. (DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 19./20. März 2011)