Das Innere eines Sanktuariums in Adana, mit Pseudo-Gräbern für den heiligmäßigen, vom Balkan bis Indien verehrten al-Khadr (auf türkisch Hizir) und Ibrahim Adham, einem Mystiker des 8. Jahrhunderts.

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Gisela Procházka-Eisl und Stephan Procházka: türkologisch-arabistisches Forscherpaar am Institut für Orientalistik der Uni Wien.

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Die Alawiten sind dort eine arabischsprachige religiöse Minderheit, deren Spiritualität sich dem Mainstream-Islam widersetzt.

Die Langsamkeit ist manchmal ein Segen, auch in der Wissenschaft. Als Gisela Procházka-Eisl und Stephan Procházka, Institut für Orientalistik der Universität Wien, Kilikien als ihr gemeinsames Forschungsgebiet entdeckten, dachten sie nicht an eine 15-jährige Arbeitszeit. Aber der/die Wissenschafterin darf eben nicht nur forschen, sondern muss unterrichten, Professor werden ... Und so sind die Jahre vergangen, in denen sie die Çukurova, wie das Gebiet türkisch heißt, jährlich, manchmal mehrmals, besuchten – und dadurch ihre Objekte über lange Zeit beobachten und Entwicklungen feststellen konnten, die ihnen bei einer kurzen Bestandsaufnahme entgangen wären.

Es geht um die alawitischen Heiligtümer in dem Gebiet, wobei man den Unterschied zwischen türkischen Aleviten und arabischsprachigen Alawiten betonen muss, die vor allem in Syrien, aber auch in der Çukurova und in der Provinz Hatay leben. Das hatte auch den Arabisten Procházka nach Kilikien gebracht, zur Erforschung ihres – aussterbenden – arabischen Dialektes. Das Thema Heilige, Heiligenwunder, Heiligtümer bot sich für seine Sprachaufnahmen an, da waren die Leute gesprächig – und fielen nicht ins Türkische, wie sie es tun, wenn sie über Fußball oder Politik reden.

Ein Lieblingsthema, erzählt Stephan Procházka, ist auch die Wiedergeburt, deren Existenz die Alawiten aus dem Koran herauslesen, dessen "inneres", esoterisches Wissen sie zu besitzen glauben. Es steht allerdings nur Männern offen.

Den Alawiten wird im Moment mehr Aufmerksamkeit zuteil als sonst: In Syrien gerät das alawitisch dominierte Regime der Assads unter Druck, und Beobachter fürchten, dass im Fall eines Umsturzes nicht nur politische Rechnungen beglichen werden könnten, sondern sich radikale Sunniten aus religiösen Gründen gegen die Alawiten wenden könnten.

Letzte gnostische Sekte

Die Alawiten – oder auch nach Ibn Nusair, dem Religionsgründer, Nusairier genannt – sind die einzige gnostische Sekte des Islam, die es bis in die Neuzeit geschafft hat (die Aleviten sind hingegen Zwölferschiiten – wie die im Iran -, aber aus einer mystischen Tradition). Nach Kilikien kamen die Alawiten ab Ende des 18. Jahrhunderts, angezogen von einem wirtschaftlichen Boom, der durch den Anbau von Zuckerrohr und Baumwolle im großen Stil ausgelöst wurde.

Jedenfalls rief Stephan Procházka angesichts der Heiligenszene, die sich ihm bei seinen Sprachforschungen bot, bald seine Frau, die Turkologin Gisela Procházka-Eisl hinzu – denn da ergab sich wieder einmal ihre "Schnittmenge", das Interesse an ethnologischen Fragen im Orient, an der Populärkultur (wozu es im Herbst einen Kongress in Wien geben wird).

Pilger unter Pilgern

Im vorliegenden Buch The Plain of Saints and Prophets. The Nusayri-Alawi Community of Cilicia (Southern Turkey) and its Sacred Places (Harrasowitz 2010) sind nun diese Heiligtümer in der Çukurova systematisch erfasst und beschrieben. Ein nächstes Projekt des Forscherehepaars wird sich direkt mit der Religion der Alawiten befassen beziehungsweise dem, was alawitische Scheichs der Region darüber schreiben, auf Türkisch. Denn nur mehr wenige können auf Arabisch schreiben.

Apropos Forscherehepaar, das gemeinsame Auftreten hat bei der Feldarbeit seine Vorteile, erzählen sie. Denn so tun sich auch familiäre Bereiche auf, die für einzeln auftretende Männer und Frauen verschlossen wären. Sie wurden auch, erzählt Gisela Procházka-Eisl, aufgefordert, mit den Familien die Stätten zu besuchen, als Pilger unter Pilgern. Da redet es sich ganz anders mit den Wächtern dieser Orte – wenn man denn die Sprachen kann, wie die beiden.

Rund 200 Heiligtümer besuchten sie, die in der Gegend sehr dicht gesät sind. Durch den längeren Forschungszeitraum konnten sie deren Evolution beobachten, dass und wie alte renoviert, aber auch neue gebaut werden. Die Blüte ist wohl als Reaktion auf den zunehmenden Druck der Islamisierung zu sehen, dem die Alawiten – denen von Muslimen vorgehalten wird, dass sie keine Moscheen haben – etwas entgegensetzen wollen. Deshalb findet man immer öfter Elemente der islamischen Sakralbauweise.

Die Entstehungsgeschichten von Heiligtümern, erzählen die beiden Forscher, gleichen einander: Oft fordert es der Heilige, dem es gewidmet ist, ein, etwa in einem Traum. Es gibt aber auch Erscheinungen von Propheten, Lichterscheinungen, verehrte Bäume (die den Heiligen symbolisierten), um die herum eine Mauer und später ein Gebäude entsteht, wo anfangs nur ein Weihrauchbehälter aufgestellt und ein Rosenstock gepflanzt wurde.

Bei Wallfahrten werden Rituale vollzogen und Gelübde abgelegt: Wenn etwa der Kinderwunsch in Erfüllung geht, dann gehört dieses Kind praktisch dem Heiligen und muss nach drei, fünf oder sogar sieben Jahren von ihm "losgekauft" werden – etwa durch das Abschneiden der Kinderhaare, die bis dahin nicht angetastet werden dürfen.

Ganz typisch für ein alawitisches Heiligtum der Gegend ist das Gemisch zwischen christlicher und schiitisch-muslimischer Ikonografie, die dann noch mit türkisch-nationalen Symbolen getoppt wird. Da finde man Bilder von Jesus über Maria zu Ali, Hassan und Hussayn, und dazu noch Atatürk. Die beiden Wissenschafter sehen da eine Gemeinsamkeit mit den türkischen Aleviten – bei den Alawiten in Syrien findet man den Bilderreichtum nicht in dieser Form. (Gudrun Harrer /DER STANDARD, Printausgabe, 30.03.2011)