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US-Tenorsaxofonist David Murray: Wilde Variationen über Nat King Cole.

Foto: APA/EPA/TIAGO CANHOTO

Wien - Mit seinen 55 Jahren ist der Mann aus Kalifornien (Oakland) längst kein juveniler Jazzlöwe mehr. Und wenn er seine Arrangements über jene Songs präsentiert, die US-Crooner Nat King Cole Ende der 1950er eingespielt hat, versprüht er im Porgy & Bess Kubaflair mit bisweilen heikler (das Kollektiv ansteckender) Gemütlichkeit. Bricht allerdings seine Solozeit an, und das tut sie ja in jedwedem Stück, ist es um Murrays Ruhe geschehen - es fliegen die Notenfetzen.

Wilde Sache: Murray wird zu jenem Kampfspieler, der flugs von tiefen Grunztönen zum schmerzbeladenen Flageolettton wechselt und nervös-zornige Läufe herausschleudert, für die er früher stand - etwa im Rahmen des World Saxophone Quartets. "Ich möchte die Leute entzünden, ihnen immer noch zeigen, wozu ein Tenorsaxofon fähig ist! Deshalb muss ich auch mich selbst auf eine andere Energieebene hieven - und das hat vor allem mit der eigenen Physis zu tun. Man muss den Körper beim Spielen auf jenes Level bringen, auf dem der Geist längst schon ist. Der Körper ist immer zu langsam."

Murray sieht sich quasi als "spielenden Gladiator: Ich habe früher Football gespielt. Und der entscheidende Augenblick war jener des ersten heftigen Zusammenpralls mit dem Gegenüber. In diesem Moment kam ich in die Emotion hinein." So sei es auch beim Improvisieren. "Bereits am Anfang muss man dafür sorgen, dass Geist und Körper geschärft und präsent sind. Ehrlich gesagt, auch deshalb trinke ich Wein ..." Eine Folge des energieversessenen Zugangs zur Improvisation ist, dass Murray jederzeit erkennbar bleibt. Dabei wirkt er als Traditionalist im undogmatischen Sinne. In seinem Spiel prallen viele Stile zwischen Gospel und Free Jazz heftig aufeinander. Eigentlich die ganze Geschichte des Instrumentes.

Ruhephasen in Paris

Es dauert natürlich immer bis zum persönlichen Tonfall. Auch bei ihm, der mit 23 nach New York ging, "um es zu schaffen, um wie die Großen zu spielen." Es habe eine Zeit gegeben, "da absorbierte ich alles, studierte jeden, wollte das Instrument total ausloten. Nach einer Weile musste ich jedoch beginnen, mich selbst zu erforschen. Alles eingeübte 'Fremde' wurde eine Erinnerung, die man mit sich trägt. Aber sie konnte keinen eigenen Stil erzeugen."

Seit 14 Jahren erforscht sich Murray in Paris, wo er mit der Szene kaum Kontakt hat. "Wenn ich in Paris bin, komme ich nicht aus dem Haus. Ich komponiere viel, dann geht es wieder zum Flughafen. Ich bin viel unterwegs."

Auch nach New York, wo er 23 Jahre verbracht hat. "Irgendwann werde ich dorthin zurückgehen. Ich muss das tun - mit New York wird man nie fertig." Es sei nicht nur der Ort, an dem man Kollegen trifft. Es sei auch der Platz großer Jazzgeschichten und "Randfiguren", die all die Storyschätze mit sich herumschleppen.

"Ich sprach mit einem Typen, der neben Sonny Rollins gewohnt hat. Er erzählte, wie er um acht in der Früh zur Arbeit ging und hörte, dass Sonny ganz langsam vier Noten übte. Als er am Abend von der Arbeit zurückkam, habe Sonny immer noch diese vier Noten gespielt, unglaublich! " Bei dieser Geschichte mischt sich in Murrays Lachen auch ein Hauch von Ehrfurcht gegenüber dem älteren Saxofonkollegen. Die rigorose Art der übenden Selbstkasteiung ist womöglich auch David Murray ein wenig unheimlich. (Ljubisa Tosic/ DER STANDARD, Printausgabe, 1.4.2011)