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Eine der betroffenen Städte: Katmandu (im Bild die buddhistische Baudhanath-Stupa)

Foto: APA/EPA

Hamburg - Zweimal dachten die Kalifornier, es sei so weit: 1989 kamen in San Francisco 300 Menschen bei einem Erdbeben ums Leben, 1994 waren es in Los Angeles 62. Doch Messungen der Erdbebenstärke gaben keine Entwarnung - es war nicht das lange erwartete große Beben.

Eine der spannungsgeladensten Nahtstellen der Erdkruste durchzieht Kalifornien fast in ganzer Länge - der San-Andreas-Graben. An seiner kaum von Vegetation verhüllten Narbe bewegen sich die Pazifische und die Nordamerikanische Erdplatte aneinander vorbei. Die Platten sind ineinander verhakt. Und seit Jahren wartet man darauf, dass sich die Spannung löst, gewaltige Energie frei wird.

Weltweit liegen etwa 40 Megastädte mit jeweils bis zu zwanzig Millionen Einwohnern in der Nähe solcher Nahtstellen der Erdkruste. Sie alle könnten jederzeit von einem Starkbeben verwüstet werden.

Schnelles Wachstum

Geologe Roger Bilham von der Universität in Boulder, Colorado, warnt in einer neuen Studie vor jährlich einer Million Toten durch Erdbeben. Nicht weil die Erde unruhiger würde, sondern weil die Großstädte immer schneller wachsen: "In diesem Jahrhundert wird es eine Erdbebenkatastrophe geben wie nie zuvor."

Die Anzahl der Erdbebentoten habe sich in den letzten 400 Jahren vervierfacht, berichtet Bilham. Erlebte San Francisco heute ein Beben wie damals am 18. April 1906, als 2000 Menschen starben, sei mit weitaus mehr Opfern zu rechnen. Denn damals gab es in San Francisco kaum Hochhäuser. Die Stadtautobahnen wurden noch nicht in vier Stockwerken übereinander geführt. Es standen nur wenige Häuser auf aufgeschüttetem Bauland, das im Ernstfall wegrutscht. Und es waren Tausende, nicht Millionen betroffen - im ebenso bedrohten Großraum Los Angeles leben heute 15 Millionen Menschen.

Erdbeben folgten einer unerbittlichen Statistik. Bilham hat ausgerechnet, dass ein Beben, bei dem 100 Menschen sterben, jährlich auftritt. Alle zwei Jahre muss mit einem Beben gerechnet werden, dass 1000 Opfer fordert und alle fünf Jahre mit einem, bei dem 10.000 sterben. Und einmal im Jahrhundert tötet ein Starkbeben 300.000 Menschen. "In Zukunft werden diese Jahrhundertbeben bei dem derzeitigen Wachstum der Großstädte aber noch verheerender."

So orakelhaft diese Aussage Bilhams wirken mag, sie weist doch auf die Prämisse der Erdbebenvorsorge: Nicht das Beben tötet Menschen, sondern zusammenstürzende Bauten.

Internationale Forscher untersuchten 21 stark erdbebengefährdete Großstädte. In der "Gesi-Studie" (Global Earthquake Safety Initiative) wurde geprüft, wie sich schwere Erdbeben auf Gebäude, Böden und Infrastruktur auswirken würden. Daraus ermittelten die Experten die Zahl der potenziellen Todesopfer. Ergebnis: Megastädte in wirtschaftlich starken Nationen wie Japan oder den USA, die seit Jahrzehnten hohe Summen in erdbebensichere Architektur der Gebäude investieren, schnitten weitaus besser ab, als Großstädte in ärmeren Ländern. In Katmandu in Nepal etwa würden bei einem schweren Beben laut Studie 70.000 Menschen umkommen - das sind siebenmal mehr als im japanischen Tokio, dessen Großraum zwanzigmal mehr Einwohner hat.

Sollte in Los Angeles das große Beben während der Rushhour ausbrechen, erwartet die US-Regierung einem offiziellen Bericht zufolge bis zu 15.000 Tote und wenigstens 50.000 Schwerverletzte. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 5. 2003)