Foto: Rat für Formgebung

Seit dem Auszug aus dem Paradies sucht der Mensch, seine eigene Blöße zu bedecken. Und da der Mensch offenbar nicht nur an sich keine Nacktheit mehr sehen mochte, dehnte er seine Bemäntelungsstrategie auch auf die Umgebung aus: bemalte Felswände. Behängte sie mit Schilfmatten. Hauptsache, die kahlen Wände verschwanden. Das Verzieren von Wänden ist also beinahe so alt wie die Menschen selber, und nachdem die Behausungen luxuriöser geworden waren, wurden es auch die Vorläufer der Tapete: In babylonischen Palästen trugen Wände Seidenstoffe und Bildteppiche, in der Antike erzeugten gemalte Architekturen Trompe-l'il-Effekte.

Die ersten Papiertapeten kamen aus dem fernen China und hielten nach 1500 in Europas wohlhabenden Häusern Einzug. Mit der Erfindung der Rollentapete rund 200 Jahre später begann dann endgültig der Siegeszug der papierenen Wandverkleidung. Wie die Zukunft der Tapete aussehen könnte, demonstriert Designer Ingo Maurer mit der weltweit ersten Leuchtdioden(LED)-Tapete, die er momentan für eine Schweizer Privatvilla entwickelt. Mit der LED-Tapete lassen sich beispielsweise Sternenbilder nachbilden oder ein funkelndes Meer von Rosen: Unter der Tapete wird an der Wand ein Geflecht aus kleinen, farbigen LED-Lämpchen eingesetzt, das Bilder, Figuren, Muster nachzeichnet. Die auf Halbleiter-Technik basierenden Dioden verbrauchen wenig Strom, sind lange haltbar und erwärmen sich kaum. Massenkompatibel ist die Maurersche Art der Wandverzierung noch nicht: Ein LED-Steinchen kostet vier Euro - und bei einer LED-Tapete benötigt man Tausende dieser Lämpchen.

Doch die Menschen mögen es eher billig, wenn es ums Verzieren ihrer Wände geht: In den meisten Wohnungen hängen Abfallprodukte - gepresstes Sägemehl, das die typische Struktur der beliebten Raufasertapete erzeugt.

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Das muss anders werden, beschloss die A.S. Création Tapetenstiftung und rief gemeinsam mit dem Rat für Formgebung junge Designer und Architekten zu dem Wettbewerb "new walls, please" auf. Frische Ideen für ein altes Produkt waren gefragt. Keine leichte Sache, schließlich sitzt bei Gestaltern das Misstrauen tief gegenüber der Oberfläche als Zentrum desig- nerischen Wirkens - Nachwirkung von Moderne und Funktionalismus. Dabei war zum Beispiel das Bauhaus Tapeten gar nicht grundsätzlich abgeneigt, selbst wenn ein Slogan dieser Jahre "Der moderne Mensch hat weiße Wände" lautete. 1929 schloss die Firma Rasch mit dem

Bauhaus einen Vertrag über Tapetenproduktionen. Aus den Wettbewerbsentwürfen von Bauhausstudenten traf man eine Auswahl von 150 verschiedenen Tapeten, die mit ihrer matten Oberfläche und feinen Mustern dem neuen funktionalistischen Stil entsprachen.

Die Studenten von heute mögen es technologisch. Kühl. Und nicht statisch. So etwa Christoph Zeller und Marco Zürn mit ihrem Euro-Kollektor. Die Berliner belegten bei "new walls, please!" den ersten Platz - und schufen im Grunde keine Tapete. Stattdessen eine transparente Wand aus elektronischem Papier, auf die mittels Elektrolumineszenz und organischen lichtemittierenden Dioden (OLED) Zahlen wie Videos in die Fläche hineinprojiziert werden. Zahlen, die den eigenen Geldumsatz sichtbar machen, den man per Kreditkarte tätigt. Jeder Euro mehr - oder weniger - füllt das Innere der durchsichtigen Wand weiter an. Eine Wandverkleidung nur für Wohlhabende? "Wir verstehen unseren Euro-Kollektor als ironischen Beitrag zur Konsumgeilheit - denn bei aller momentanen Kaufzurückhaltung sind wir immer noch eine Gesellschaft, die wirtschaftlich wächst", verteidigt Christoph Zeller den Entwurf.

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Während die Berliner das gesellschaftliche Phänomen Shopping auf die Schippe nehmen, reflektieren die Entwürfe des Zweitplatzierten Christoph Speidel postmoderne Erfahrungen einer sich beschleunigenden Welt. Wie aus einem schnell fahrenden Auto heraus fotografiert wirkt "high speed high way" - im Geschwindigkeitsrausch verschwimmt die Welt durch die Scheibe zu Farbstreifen, allein der blaue Himmel dient noch der Orientierung. "Dadurch, dass meine Entwürfe am Computer entstanden, spielen sie natürlich auch mit der Ästhetik von Computerspielen", sagt Speidel, "aber sie sollen nicht die Videowelt widerspiegeln." Speidels zweiter Entwurf, "terrorcolor - fast urban camouflage", ist ein ironisch-kritisches Zitat auf eine Zeit, in der Krieg erneut unabwendbar geworden ist.

Die Tapete in Tarnfarben betreibt Camouflage an den eigenen vier Wänden. Ineinander verschwimmende Streifen lassen den Raum optisch um einiges breiter wirken, als er tatsächlich ist. Hier kreuzt sich behagliche Natur mit Elementen einer modernen Gesellschaft: Die verwendeten Farbstreifen sind Extrakte aus einem Waldfoto.

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Statt auf kühle Ästhetik setzt der Entwurf von Dominik Mycielski und Ilka Kremke auf Wärme: Die "clubtapete" ist mit einer thermo-sensiblen Farbe beschichtet und reagiert auf Temperaturschwankungen. Wird es im Raum wärmer oder berührt jemand die Wand, kommen unter der Beschichtung aufgedruckte Texte zum Vorschein. "Wir wollten nicht nur eine ästhetisch schöne Tapete, sondern auch eine Art Kommunikation erschaffen", erklärt Mycielski den funktionalen Aspekt der Clubtapete. "Unser Entwurf lädt zur Interaktion ein und spielt damit, dass Tapeten anzufassen normalerweise nicht angesagt ist." Ob es das Spiel mit der Oberflächlichkeit ist oder die ironische Brechung gesellschaftlicher Phänomene - die Tapeten der Nachwuchsgestalter verweigern sich dem Prinzip, für zu Hause eine Idylle zu entwerfen: Äußere Wirklichkeiten dringen in innere Welten ein. Drängt sich zum Schluss die Frage auf, wie eigentlich die Prämierten leben? Alle in weißen Wänden. (DER STANDARD, rondo/16/05/2003)