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Die Mauer (zwischen Israel und Palästina) mit Aussicht auf bessere Zeiten, verschönert vom renommierten britischen Street-Artist Banksy.

Foto: Sebastian Rich/Corbis

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Der Anschlag auf einen Linienbus in Jerusalem am 23. März dieses Jahres war wie ein Rückfall in schwierige Zeiten.

Foto:REUTERS/Darren Whiteside

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"Diesen Krieg kann keiner gewinnen", sagt David Grossman, 1954 in Jerusalem geboren.

Foto: AP/Dan Balilty

Am Dienstag tritt er in Wien auf.

Als vor etwas mehr als zwei Wochen in Jerusalem zum ersten Mal seit längerer Zeit ein Anschlag auf einen Linienbus verübt wurde, erschien das wie der Rückfall in die schwierigsten Zeiten des Verhältnisses zwischen Israel und den Palästinensern. Der Schriftsteller David Grossman sah sich auf eine lang eingeübte Routine zurückgeworfen: "Wir haben das gemacht, was wir in solchen Fällen immer machen. Wir haben telefoniert, wir haben festgestellt, wo die einzelnen Mitglieder unserer Familie gerade sind, und während wir sprachen, hat uns ein tiefes Gefühl der Verzweiflung beschlichen. Jetzt geht das also wieder los, dachten wir. Zu diesem Zeitpunkt gingen wir noch von einem Selbstmordanschlag aus, das erwies sich dann ja als Fehlinformation. Mein Vater, der 83 Jahre alt ist, der alle Kriege Israels mitgemacht hat, sah die Sache fatalistisch: ,Das wird sich nie ändern, Avi, das ist unsere Zukunft. Dazu sind wir verdammt.' Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment so verzweifelt war, dass ich ihm gar nichts erwidern wollte."

Diese Bemerkung macht deutlich, wie tief dieser Anschlag im ersten Moment getroffen hat. Denn wenn es in Israel eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gibt, die sich der Resignation widersetzt, die nicht an ein schicksalhaftes Freund-Feind-Schema glaubt und an immer neue Raketen, Bomben, Vergeltungsschläge, dann ist es der Schriftsteller und Intellektuelle David Grossman. Seit den 1980er-Jahren erzählt er von den Lebensbedingungen in dem immer noch relativ jungen Staat, der gerade einmal sechs Jahre alt war, als Grossman 1954 in Jerusalem geboren wurde.

In seinem aktuellen Buch Eine Frau flieht vor einer Nachricht, aus dem er am 12. April im Burgtheater lesen wird, geht es um nicht weniger als um den Versuch, mit den Mitteln der Literatur vor den unentwegten Schreckens- und Todesnachrichten davonzugehen, davon wegzuschreiben, und dabei doch durch die zahlreichen Erzählungen, die darin verwoben sind, sich den Schwierigkeiten zu stellen und die Macht des Traumas zu brechen. Ein paradoxes Unterfangen, wie es jede Literatur in einer Situation extremer politischer Spannung ist.

Den Sohn verloren

An dem Nachmittag wenige Tage nach dem Jerusalemer Anschlag, an dem ein telefonisches Gespräch verabredet ist, herrscht aber schon wieder Alltag im Hause Grossman. Es ist zufällig jener Tag in der Woche, dessen Abend seit bald zwanzig Jahren einem besonderen Zweck gewidmet ist. David Grossman trifft sich da mit zwei Freunden, um die Bibel zu lesen, Wort für Wort, Vers für Vers, im originalen Hebräisch. An dem Tag, an dem ich ihn erreiche, steht das Buch Hiob auf dem Programm. Die Brisanz dieser Lektüre wird sofort klar, wenn man weiß, dass die Grossmans 2006 ihren Sohn und Bruder Uri verloren haben. Er starb bei einem Armeeeinsatz im Südlibanon, als sein Panzer von einer Panzerabwehrrakete getroffen wurde und die drei Mann Besatzung verbrannten. Zwei Wochen später wäre Uri 21 Jahre alt geworden.

Daran denkt Grossman unwillkürlich, wenn er Hiob liest, die Geschichte des von Gott geplagten Mannes. "Ich fühle mich persönlich angesprochen, wenn ich lese, wie Hiob seine Familie verliert, und das alles wegen dieses seltsamen Messens zwischen Gott und dem Teufel. Ich sehe mir genau an: Wie blickt Hiob auf seine Katastrophe, auf welche Weise verlangt er Antworten von Gott wegen dieses sinnlosen und brutalen Akts, dass er seine Kinder hinweggenommen hat? Ich höre auch die Stimme der offiziellen Juden, die kommen, um ihn zu trösten. Ihre Worte sind so leer und wirkungslos, und dann erscheint Gott und versucht zu erklären, und selbst Gott erscheint durch das Leiden Hiobs beschämt. Seltsamerweise aber nimmt Gott diesen Hiob mehr ernst als die frommen Freunde, gerade wegen der harten Fragen, die Hiob stellt. Er ist der Gläubige, den Gott letztlich vorzieht."

Mit seinen religionskritischen Erfahrungen ist Hiob für Grossman auch deswegen eine Identifikationsfigur, weil er selbst nicht gläubig ist, sondern ein ganz und gar säkularer Jude. Gewöhnlich drehen sich die Diskussionen beim Bibelstudium auch eher um Psychologie, Literatur und Politik "und manchmal auch um die Sopranos". Doch David Grossman ist viel zu neugierig auf die jeweils "andere Seite", um sich nicht auch intensiv mit der Perspektive der Frommen auseinanderzusetzen, von denen er umgeben ist.

Das vor drei Jahren im Original erschienene Buch Eine Frau flieht vor einer Nachricht beruht nicht zuletzt auf einer Wanderung durch das Land Israel, die Grossman selbst 2003 unternommen hat – ein Versuch, zu Fuß zu den Ursprüngen dieser Verheißung zurückzukehren, auf denen der Staat Israel auch als modernes Gemeinwesen immer noch beruht. Was kann ein säkularer Jude eigentlich heute noch anfangen mit dieser Idee von "Eretz Israel", von einem Territorium, das einem Volk vor langer Zeit von seinem Gott versprochen wurde? Grossman schildert die Erfahrungen seiner Fußreise fast euphorisch: "Es war großartig. Ich bin auf etwas zurückgegangen, was ganz ursprünglich ist. Als ich aufbrach, hatte ich das Gefühl, dass der Kontrakt zwischen mir und dem Land zerbrochen war, und zwar nicht von mir, sondern von der Regierung, von dem Staat Israel. Als ich dann aber durch Galiläa wanderte, als ich die Farben in dieser felsigen Landschaft sah, die Tiere, die darin leben, da hatte ich ein tiefes Gefühl, davon ein Teil zu sein. Das hat etwas verändert und mein Herz geöffnet. Es gibt eine Großzügigkeit Galiläas, die kann Menschen öffnen. Ich war überflutet von Liebe und Zugehörigkeit. Ja, vor allem das: Zugehörigkeit. Ich habe mit zahlreichen Leuten gesprochen, viele davon waren Siedler, also eigentlich politische Gegner von mir. Aber wir trafen einander im Offenen, und beide haben wir die Liebe zu diesem Ort gespürt. Wir waren in diesem Augenblick entmilitarisiert, haben Kaffee getrunken und Kekse oder Sandwiches gegessen."

Die Schilderung dieses Moments ist typisch für Grossman, der sich nie auf ideologische Positionen festlegt, sondern nach Erfahrungen sucht, durch deren Beschreibung er die jeweilige Gegenseite aus der Reserve locken könnte. In dem großen Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht ist es Ora, die sich auf eine Wanderschaft durch Israel begibt, nachdem ihr Sohn Ofer sich zu einem Militäreinsatz im Westjordanland gemeldet hat. In ihrer Angst wendet Ora sich an Avram, einen früheren Geliebten, der während des Sechstagekriegs in ägyptische Gefangenschaft geraten war und daraus nach schweren Folterungen zutiefst verstört zurückgekommen ist. Bewegungen und Erzählungen verschränken sich in Eine Frau flieht vor einer Nachricht zu einem großen Panorama der israelischen Befindlichkeit, in dem auf vielstimmige Weise deutlich wird, wie eng verwoben Aggression und Leid, Verbrechen und Opferrolle sind.

Die Frontlinien verlaufen mitten durch die Familien. In der englischen Ausgabe lautet der Titel To the End of the Land – Bis an das Ende des Landes. Welcher Titel entspricht denn besser dem hebräischen Original? "Der deutsche Titel ist die direkte Übersetzung des Hebräischen, mir gefällt er besser. Das Buch hat ja zwei Ebenen. Da ist das private Leben, mit all seinen Nuancen und Komplexitäten, Beziehungen und Gefühlen, diese ganze verdichtete Lebenseinheit einer Familie. Der deutsche Titel verweist stärker auf diese Ebene. Der englische Titel bezieht sich stärker auf die politische Ebene, die Familie lebt natürlich in einem politischen Umfeld, aber mir ist die familiäre Ebene wichtiger."

Wofür steht Oras Flucht, frage ich Avi Grossman, inwiefern kann man sie als Vertreterin des heutigen Israels lesen? Grossman: "Sie verkörpert diese Situation beständiger Unsicherheit, der Zweifel, die unser Leben bestimmen. Geschichten wie die von Ora erlauben es, stärker in der Situation zu sein, sich nicht auf Stereotype und Klischees zu verlassen. Geschichten haben ihre eigene Rolle vor allem, wenn die Menschen verzweifelt sind, wenn sie nichts über die andere Seite wissen wollen. Literatur kann der anderen Seite die Legitimität eines menschlichen Wesens zurückgeben.

Es gab so viele Reaktionen auf das Buch, aber die für mich wichtigste war, dass Menschen plötzlich fühlten, dass sie nicht dazu verdammt sind, in einer bestimmten politischen Position zu verharren. Niemand ist dazu verurteilt, ein Rechter zu sein. Die Figur der Ora ist kein Denkmal einer Meinung, sondern ein menschliches Wesen, das zwischen linken und rechten politischen Positionen schwankt."

Wie würde Grossman, der selbst ja eindeutig der Linken zuzuordnen ist, die blinden Flecken der politischen Lager beschreiben? "Menschen auf der Linken tun sich nicht leicht, die existenzielle Bedrohung Israels zuzugeben, denn sie wollen den Palästinensern vertrauen. Rechte verbieten sich die einfache Sympathie für einen verwundeten oder getöteten Palästinenser unter unserer Okkupation, weil sie das Sicherheitsbedürfnis und die Ansprüche auf das größere Territorium über alles stellen. Die Situation ist voller Widersprüche, kompliziert, mit vielen Zwängen und Sehnsüchten. Beim Schreiben des Buches habe ich mir erlaubt, das alles zu erforschen, mich nicht abzuschirmen durch das, was ich schon weiß, sondern dorthin zu gehen, wo ich mich noch nicht sicher fühle."

Aufbruch ins Ungewisse

1988 brachte Grossman das Buch heraus, das besonders deutlich seine Bereitschaft zum Aufbruch ins Ungewisse dokumentiert. Der gelbe Wind versammelte seine Eindrücke von Recherche-reisen in die besetzten Gebiete. Das palästinensische Volk war für ihn keine namenlose Masse, sondern er traf Individuen mit konkreten Schicksalen und trug damit wesentlich zu einem Realitätsschock bei, den nicht alle leicht verkrafteten. Von diesem Geist ist auch Eine Frau flieht vor einer Nachricht wieder geprägt, mit dem nun auch ein Pendant zu dem bisher größten Erfolg Grossmans vorliegt, dem Roman Stichwort: Liebe, in dem er die Geburt des Staates Israel aus dem Trauma des Holocausts heraus beschrieb.

Wenn man ihn heute auf die politische Instrumentalisierung der Shoah anspricht, findet er deutliche Worte: "Es gibt eine Inflation dessen, wie der Holocaust verwendet wird, wie die gegenwärtige Situation in Begriffen des Holocausts beschrieben wird. Dauernd taucht irgendwo ein neuer Hitler auf und gefährdet den Weltfrieden. Aber es ist doch nicht vergleichbar. Wir sind stark, wir haben eine Armee, wir haben Raum zum Manövrieren. Wir müssen das Gedächtnis der Shoah sorgfältig bewahren, aber es es gibt daraus verschiedene Lektionen zu beherzigen, nicht nur die tragischen. So furchtbar das Leiden war, es gab auch Überlebende, und wir haben Israel geschaffen, eine Demokratie, wir haben Hebräisch als Sprache wiederbelebt. Das alles war völlig unwahrscheinlich und zeigt uns, dass man nicht immer nur Opfer bleiben muss."

Das ungewisse Selbstverständnis Israels als wehrhafter Staat hat Grossman auch in einem Buch thematisiert, das auf einer biblischen Vorlage beruht. In Löwenhonig erzählte er seine Version der Geschichte von dem starken Samson. "Ich habe das ganz deutlich gemacht, wo ich auf das heutige Israel verweisen wollte. Unser Problem ist doch, dass wir unsere enorme militärische Sträke nie so richtig internalisiert haben. Sie ist uns immer noch irgendwie fremd, und wir setzen sie fast immer falsch ein, was auch von einem Mangel an Selbstvertrauen zeugt. Es gibt noch andere Parallelen zwischen Samson und uns. Die Redakteure der biblischen Richter-Bücher wollten uns etwas zeigen: Sie verehrten ihn seiner Stärke wegen, aber wenn man genau liest, dann ist er auch ein Stellvertreter für existenzielle Unbehaustheit in der Welt. Im Grunde ist das eine sehr tragische Geschichte."

Eine Geschichte, die in dem Moment, in dem in Jerusalem auf dem Busbahnhof eine Bombe explodierte, wieder ganz und gar ausweglos erscheinen konnte. Aber die Verstörung des Moments hält nicht ewig an, und danach müssten eigentlich wieder die Stimmen der Vernunft zu Wort kommen. "Diesen Krieg kann keiner gewinnen", hat Grossman 2003 programmatisch über eine Sammlung seiner politischen Artikel und Interventionen geschrieben. Bis heute wird er immer wieder auch so gefragt, als wäre er selber ein Politiker, und auch ich komme um die Frage nicht umhin, welche Lösung er persönlich für die Situation in Israel und Palästina für denkbar hält – ein Zweistaatenmodell, ein einziger Staat, in dem alle zusammenleben sollten, die heute schon da sind? "Ich bin kein Politiker, denn ich werde immer versuchen, mich nicht an eine Position zu fesseln. Aber ich möchte beeinflussen und verändern, und insofern agiere ich politisch. Ich bin gegen die Lösung mit einem gemeinsamen Staat, denn ich glaube, dass die Menschen nicht zur Koexistenz fähig sind. Das würde nur weitere Gewalt mit sich bringen. Ein gemeinsamer Staat bringt viel mehr Komplikationen als eine Lösung mit zwei Staaten. Wir verdienen es, in Sicherheit, Stabilität und mit Zukunftsvertrauen zu leben, und das gilt auch für die Palästinenser. Die Siedlungen nehmen de facto nur weniger als sechs Prozent des Lands ein, das ihren Staat ergeben sollte, aber sie befinden sich an Orte, die den Zusammenhang des Territoriums zerbrechen. Die Siedlungen müssen also aufgegeben werden, Jerusalem wird geteilt sein, es kann aber auch kein Rückkehrrecht für die Palästinenser geben. Es wird eine teilweise Gerechtigkeit sein, aber das ist die einzige Möglichkeit. Solange eine Seite auf einer totalen Lösung besteht, wird es keine geben." (Bert Rebhandl, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 9./10. April 2011)